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verlotterte Burschen mit lungerndem und doch suchendem Gang sich aus den
Seitenalleen vorschieben: es war in der einen Stunde, in der ich festgenagelt
vor dem fremden Tische gesessen, diese seltsame Welt mehr ins Gemeine
hinabgeglitten. Aber gerade jene phosphoreszierende Atmosphäre von
Frechheit und Gefährlichkeit gefiel mir irgendwie besser als die
bürgerlichsonntägliche von vordem. Der in mir aufgereizte Instinkt witterte
hier ähnliche Gespanntheit der Begier; in dem vortreibenden Schlendern
dieser fragwürdigen Gestalten, dieser Ausgestoßenen der Gesellschaft,
empfand ich mich irgendwie gespiegelt: auch sie wilderten doch mit einer
unruhigen Erwartung hier nach einem flackernden Abenteuer, einer raschen
Erregung, und selbst sie, diese zerlumpten Burschen, beneidete ich um die
offene, freie Art ihres Streifens; denn ich stand an die Säule eines Karussells
atmend gepreßt, ungeduldig, den Druck des Schweigens, die Qual meiner
Einsamkeit aus mir zu stoßen und doch unfähig einer Bewegung, eines
Anrufs, eines Worts. Ich stand nur und starrte hinaus auf den Platz, der vom
Reflex der kreisenden Lichter zuckend erhellt war, stand und starrte von
meiner Lichtinsel ins Dunkel hinein, töricht erwartungsvoll jeden Menschen
anblickend, der vom grellen Schein angezogen für einen Augenblick sich
herwandte. Aber jedes Auge glitt kalt an mir ab. Niemand wollte mich,
niemand erlöste mich.
Ich weiß, es wäre wahnwitzig, jemandem schildern oder gar erklären zu
wollen, daß ich, ein kultivierter eleganter Mann der Gesellschaft, reich,
unabhängig, mit den Besten einer Millionenstadt befreundet, eine ganze
Stunde in jener Nacht am Pfosten eines verstimmt quiekenden, rastlos sich
schwingenden Praterkarussells stand, zwanzig, vierzig, hundertmal dieselbe
stolpernde Polka, denselben schleifenden Walzer mit denselben idiotischen
Pferdeköpfen aus bemaltem Holz an mir vorüberkreisen ließ und aus
verbissenem Trotz, aus einem magischen Gefühl, das Schicksal in meinen
Willen zu zwingen, nicht mich von der Stelle rührte. Ich weiß, daß ich sinnlos
handelte ln jener Stunde, aber in dieser sinnlosen Beharrung war eine
Spannung des Gefühls, eine so stählerne Ankrampfung aller Muskeln, wie sie
Menschen sonst vielleicht nur bei einem Absturz fühlen, knapp vor dem Tod,
mein ganzes, leer vorbeigelaufenes Leben war plötzlich zurückgeflutet und
staute sich bis hinauf zur Kehle. Und so sehr ich gequält war von meinem
sinnlosen Wahn, zu bleiben, zu verharren, bis irgendein Wort, ein Blick eines
Menschen mich erlöse, so sehr genoß ich diese Qual. Ich büßte etwas in
diesem Stehen an dem Pfahl, nicht jenen Diebstahl so sehr, als das Dumpfe,
das Laue, das Leere meines früheren Lebens: und ich hatte mir geschworen,
nicht früher zu gehen, bis mir ein Zeichen gegeben war, das Schicksal mich
freigegeben.
Und je mehr jene Stunde fortschritt, um so mehr drängte die Nacht sich
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Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Title
- Amok
- Subtitle
- Novellen einer Leidenschaft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Categories
- Weiteres Belletristik