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gedruckten, enttäuschten Art, bereit, ins Dunkel zurückzuspringen. Denn ihre
Macht war vorüber: nun war ich es, den sie fürchteten.
In diesem Augenblick überkam mich plötzlich – und es war, als ob die
innere Gärung alle Dauben in meiner Brust plötzlich sprengte und heiß das
Gefühl in mein Blut überliefe – ein so unendliches, ein brüderliches Mitleid
mit diesen beiden Menschen. Was hatten sie denn begehrt von mir, sie, die
armen hungernden, zerfetzten Burschen, von mir, dem übersatten, dem
Parasiten: ein paar Kronen, ein paar elende Kronen. Sie hätten mich würgen
können dort im Dunkel, mich berauben, mich töten, und hatten es nicht getan,
hatten nur in einer ungeübten, ungeschickten Art versucht, mich zu schrecken
um dieser kleinen Silbermünzen willen, die mir lose in der Tasche lagen. Wie
konnte ich es da wagen, ich, der Dieb aus Laune, aus Frechheit, der
Verbrecher aus Nervenlust, sie, diese armen Teufel, noch zu quälen? Und in
mein unendliches Mitleid strömte unendliche Scham, daß ich mit ihrer Angst,
mit ihrer Ungeduld um meiner Wollust willen noch gespielt. Ich raffte mich
zusammen: jetzt, gerade jetzt, da ich gesichert war, da schon das Licht der
nahen Straße mich schützte, jetzt mußte ich ihnen zuwillen sein, die
Enttäuschung auslöschen in diesen bittern, hungrigen Blicken.
Mit einer plötzlichen Wendung trat ich auf den einen zu. »Warum wollen
Sie mich anzeigen?« sagte ich und mühte mich, in meine Stimme einen
gepreßten Atem von Angst zu quälen. »Was haben Sie davon? Vielleicht
werde ich eingesperrt, vielleicht auch nicht. Aber Ihnen bringt es doch keinen
Nutzen. Warum wollen Sie mir mein Leben verderben?«
Die beiden starrten verlegen. Sie hatten alles erwartet jetzt, einen Anschrei,
eine Drohung, unter der sie wie knurrende Hunde sich weggedrückt hätten,
nur nicht diese Nachgiebigkeit. Endlich sagte der eine, aber gar nicht
drohend, sondern gleichsam entschuldigend: »Gerechtigkeit muß sein. Wir
tun nur unsere Pflicht.«
Es war offenbar eingelernt für solche Fälle. Und doch klang es irgendwie
falsch. Keiner von beiden wagte mich anzusehen. Sie warteten. Und ich
wußte, worauf sie warteten. Daß ich betteln würde um Gnade. Und daß ich
ihnen Geld bieten würde.
Ich weiß noch alles aus jenen Sekunden. Ich weiß jeden Nerv, der sich in
mir regte, jeden Gedanken, der hinter der Schläfe zuckte. Und ich weiß, was
mein böses Gefühl damals zuerst wollte: sie warten lassen, sie noch länger
quälen, die Wollust des Wartenlassens auskosten. Aber ich zwang mich rasch,
ich bettelte, weil ich wußte, daß ich die Angst dieser beiden endlich erlösen
mußte. Ich begann eine Komödie der Furcht zu spielen, bat sie um Mitleid,
sie möchten schweigen, mich nicht unglücklich machen. Ich merkte, wie sie
verlegen wurden, diese armen Dilettanten der Erpressung, und wie das
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Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Title
- Amok
- Subtitle
- Novellen einer Leidenschaft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Categories
- Weiteres Belletristik