Page - 110 - in Amok - Novellen einer Leidenschaft
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hatte ich so stark empfunden, daß alle diese Dinge wirklich vorhanden waren,
daß sie lebten und daß ich lebte und daß ihr Leben und das meine ganz das
gleiche waren, eben das große, das gewaltige, das nie genug beglückt gefühlte
Leben, das nur die Liebe begreift, nur der Hingegebene umfaßt.
Dann kam noch ein letzter dunkler Augenblick, und das war, als ich, selig
heimgewandert, den Schlüssel in meine Türe drückte und der Gang zu meinen
Zimmern schwarz sich auftat. Da stürzte plötzlich Angst über mich, ich ginge
jetzt in mein altes früheres Leben zurück, wenn ich die Wohnung dessen
betrete, der ich bis zu dieser Stunde gewesen, mich in sein Bett legte, wenn
ich die Verknüpfung mit all dem wieder aufnahm, was diese Nacht so schön
gelöst. Nein, nur nicht mehr dieser Mensch werden, der ich war, nicht mehr
der korrekte, fühllose, weltabgelöste Gentleman von gestern und einst, lieber
hinabstürzen in alle Tiefen des Verbrechens und des Grauens, aber doch in die
Wirklichkeit des Lebens! Ich war müde, unsagbar müde, und doch fürchtete
ich mich, der Schlaf möchte über mir zusammenschlagen und all das Heiße,
das Glühende, das Lebendige, das diese Nacht in mir entzündet, wieder
wegschwemmen mitseinem schwarzen Schlamm, und dies ganze Erlebnis
möge so flüchtig und unverhaftet gewesen sein wie ein phantastischer Traum.
Aber ich ward heiter wach in einen neuen Morgen am nächsten Tage, und
nichts war verronnen von dem dankbar strömenden Gefühl. Seitdem sind nun
vier Monate vergangen, und die Starre von einst ist nicht wiedergekehrt, ich
blühe noch immer warm in den Tag hinein. Jene magische Trunkenheit von
damals, da ich plötzlich den Boden meiner Welt unter den Füßen verlor, ins
Unbekannte stürzte und bei diesem Sturz in den eigenen Abgrund den Taumel
der Geschwindigkeit gleichzeitig mit der Tiefe des ganzen Lebens berauscht
gemengt empfand, – diese fliegende Hitze, sie freilich ist dahin, aber ich
spüre seit jener Stunde mein eigenes warmes Blut mit jedem Atemzuge und
spüre es mit täglich erneuter Wollust des Lebens. Ich weiß, daß ich ein
anderer Mensch geworden bin mit anderen Sinnen, anderer Reizbarkeit und
stärkerer Bewußtheit. Selbstverständlich wage ich nicht zu behaupten, ich sei
ein besserer Mensch geworden: ich weiß nur, daß ich ein glücklicherer bin,
weil ich irgendeinen Sinn für mein ganz ausgekühltes Leben gefunden habe,
einen Sinn, für den ich kein Wort finde als eben das Wort Leben selbst.
Seitdem verbiete ich mir nichts mehr, weil ich die Normen und Formen
meiner Gesellschaft als wesenlos empfinde, ich schäme mich weder vor
andern noch vor mir selbst. Worte wie Ehre, Verbrechen, Laster haben
plötzlich einen kalten, blechernen Klangton bekommen, ich vermag sie ohne
Grauen gar nicht auszusprechen. Ich lebe, indem ich mich leben lasse von der
Macht, die ich damals zum erstenmal so magisch gespürt. Wohin sie mich
treibt, frage ich nicht: vielleicht einem neuen Abgrund entgegen, in das
hinein, was die andern Laster nennen, oder einem ganz Erhabenen zu. Ich
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Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Title
- Amok
- Subtitle
- Novellen einer Leidenschaft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Categories
- Weiteres Belletristik