Page - 114 - in Amok - Novellen einer Leidenschaft
Image of the Page - 114 -
Text of the Page - 114 -
wage nicht mich zu rühren, denn wenn sie flackern, die Kerzen, huschen
Schatten über sein Gesicht und den verschlossenen Mund, und es ist dann so,
als regten sich seine Züge, und ich könnte meinen, er sei nicht tot, er würde
wieder erwachen und mit seiner hellen Stimme etwas Kindlich-Zärtliches zu
mir sagen. Aber ich weiß es, er ist tot, ich will nicht hinsehen mehr, um nicht
noch einmal zu hoffen, nicht noch einmal enttäuscht zu sein. Ich weiß es, ich
weiß es, mein Kind ist gestern gestorben – jetzt habe ich nur Dich mehr auf
der Welt, nur Dich, der Du von mir nichts weißt, der Du indes ahnungslos
spielst oder mit Dingen und Menschen tändelst. Nur Dich, der Du mich nie
gekannt und den ich immer geliebt.
Ich habe die fünfte Kerze genommen und hier zu dem Tisch gestellt, auf
dem ich an Dich schreibe. Denn ich kann nicht allein sein mit meinem toten
Kinde, ohne mir die Seele auszuschreien, und zu wem sollte ich sprechen in
dieser entsetzlichen Stunde, wenn nicht zu Dir, der Du mir alles warst und
alles bist! Vielleicht kann ich nicht ganz deutlich zu Dir sprechen, vielleicht
verstehst Du mich nicht – mein Kopf ist ja ganz dumpf, es zuckt und hämmert
mir an den Schläfen, meine Glieder tun so weh. Ich glaube, ich habe Fieber,
vielleicht auch schon die Grippe, die jetzt von Tür zu Tür schleicht, und das
wäre gut, denn dann ginge ich mit meinem Kinde und müßte nichts tun wider
mich. Manchmal wirds mir ganz dunkel vor den Augen, vielleicht kann ich
diesen Brief nicht einmal zu Ende schreiben – aber ich will alle Kraft
zusammentun, um einmal, nur dieses eine Mal zu Dir zu sprechen. Du mein
Geliebter, der Du mich nie erkannt.
Zu Dir allein will ich sprechen, Dir zum erstenmal alles sagen; mein ganzes
Leben sollst Du wissen, das immer das Deine gewesen und um das Du nie
gewußt. Aber Du sollst mein Geheimnis nur kennen, wenn ich tot bin, wenn
Du mir nicht mehr Antwort geben mußt, wenn das, was mir die Glieder jetzt
so kalt und heiß schüttelt, wirklich das Ende ist. Muß ich weiterleben, so
zerreiße ich diesen Brief und werde weiter schweigen, wie ich immer
schwieg. Hältst Du ihn aber in Händen, so weißt Du, daß hier eine Tote Dir
ihr Leben erzählt, ihr Leben, das das Deine war von ihrer ersten bis zu ihrer
letzten wachen Stunde. Fürchte Dich nicht vor meinen Worten; eine Tote will
nichts mehr, sie will nicht Liebe und nicht Mitleid und nicht Tröstung. Nur
dies eine will ich von Dir, daß Du mir alles glaubst, was mein zu Dir
hinflüchtender Schmerz Dir verrät. Glaube mir alles, nur dies eine bitte ich
Dich: man lügt nicht in der Sterbestunde eines einzigen Kindes.
Mein ganzes Leben will ich Dir verraten, dies Leben, das wahrhaft erst
begann mit dem Tage, da ich Dich kannte. Vorher war bloß etwas Trübes und
Verworrenes, in das mein Erinnern nie mehr hinabtauchte, irgendein Keller
von verstaubten, spinnverwebten, dumpfen Dingen und Menschen, von denen
114
back to the
book Amok - Novellen einer Leidenschaft"
Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Title
- Amok
- Subtitle
- Novellen einer Leidenschaft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Categories
- Weiteres Belletristik