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mein Herz nichts mehr weiß. Als Du kamst, war ich dreizehn Jahre und
wohnte im selben Hause, wo Du jetzt wohnst, in demselben Hause, wo Du
diesen Brief, meinen letzten Hauch Leben, in Händen hältst, ich wohnte auf
demselben Gange, gerade der Tür Deiner Wohnung gegenüber. Du erinnerst
Dich gewiß nicht mehr an uns, an die ärmliche Rechnungsratswitwe (sie ging
immer in Trauer) und das halbwüchsige, magere Kind – wir waren ja ganz
still, gleichsam hinabgetaucht in unsere kleinbürgerliche Dürftigkeit – Du hast
vielleicht nie unseren Namen gehört, denn wir hatten kein Schild auf unserer
Wohnungstür, und niemand kam, niemand fragte nach uns. Es ist ja auch
schon so lange her, fünfzehn, sechzehn Jahre, nein, Du weißt es gewiß nicht
mehr, mein Geliebter, ich aber, oh, ich erinnere mich leidenschaftlich an jede
Einzelheit, ich weiß noch wie heute den Tag, nein, die Stunde, da ich zum
erstenmal von Dir hörte, Dich zum erstenmal sah, und wie sollte ichs auch
nicht, denn damals begann ja die Welt für mich. Dulde, Geliebter, daß ich Dir
alles, alles von Anfang erzähle, werde, ich bitte Dich, die eine Viertelstunde
von mir zu hören nicht müde, die ich ein Leben lang Dich zu lieben nicht
müde geworden bin.
Ehe Du in unser Haus einzogst, wohnten hinter Deiner Tür häßliche, böse,
streitsüchtige Leute. Arm wie sie waren, haßten sie am meisten die
nachbarliche Armut, die unsere, weil sie nichts gemein haben wollte mit ihrer
herabgekommenen, proletarischen Roheit. Der Mann war ein Trunkenbold
und schlug seine Frau: oft wachten wir auf in der Nacht vom Getöse fallender
Stühle und zerklirrter Teller, einmal lief sie, blutig geschlagen, mit zerfetzten
Haaren auf die Treppe, und hinter ihr grölte der Betrunkene, bis die Leute aus
den Türen kamen und ihn mit der Polizei bedrohten. Meine Mutter hatte von
Anfang an jeden Verkehr mit ihnen vermieden und verbot mir, zu den
Kindern zu sprechen, die sich dafür bei jeder Gelegenheit an mir rächten.
Wenn sie mich auf der Straße trafen, riefen sie schmutzige Worte hinter mir
her und schlugen mich einmal so mit harten Schneeballen, daß mir das Blut
von der Stirne lief. Das ganze Haus haßte mit einem gemeinsamen Instinkt
diese Menschen, und als plötzlich einmal etwas geschehen war – ich glaube,
der Mann wurde wegen eines Diebstahls eingesperrt – und sie mit ihrem
Kram ausziehen mußten, atmeten wir alle auf. Ein paar Tage hing der
Vermietungszettel am Haustore, dann wurde er heruntergenommen, und durch
den Hausmeister verbreitete es sich rasch, ein Schriftsteller, ein einzelner,
ruhiger Herr, habe die Wohnung genommen. Damals hörte ich zum erstenmal
Deinen Namen.
Nach ein paar Tagen schon kamen Maler, Anstreicher, Zimmerputzer,
Tapezierer, die Wohnung nach ihren schmierigen Vorbesitzern reinzufegen, es
wurde gehämmert, geklopft, geputzt und gekratzt, aber die Mutter war nur
zufrieden damit, sie sagte, jetzt werde endlich die unsaubere Wirtschaft
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Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Title
- Amok
- Subtitle
- Novellen einer Leidenschaft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Categories
- Weiteres Belletristik