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herrlichen Bücher besaß und gelesen hatte, der alle diese Sprachen wußte, der
so reich war und so gelehrt zugleich. Eine Art überirdischer Ehrfurcht
verband sich mir mit der Idee dieser vielen Bücher. Ich suchte Dich mir im
Bilde vorzustellen: Du warst ein alter Mann mit einer Brille und einem
weißen langen Barte, ähnlich wie unser Geographieprofessor, nur viel gütiger,
schöner und milder – ich weiß nicht, warum ich damals schon gewiß war, Du
müßtest schön sein, wo ich noch an Dich wie einen alten Mann dachte.
Damals in jener Nacht und noch ohne Dich zu kennen, habe ich das erstemal
von Dir geträumt.
Am nächsten Tage zogst Du ein, aber trotz allen Spähens konnte ich Dich
nicht zu Gesicht bekommen – das steigerte nur meine Neugier. Endlich, am
dritten Tage, sah ich Dich, und wie erschütternd war die Überraschung für
mich, daß Du so anders warst, so ganz ohne Beziehung zu dem kindlichen
Gottvaterbilde. Einen bebrillten gütigen Greis hatte ich mir geträumt, und da
kamst Du – Du, ganz so, wie Du noch heute bist, Du Unwandelbarer, an dem
die Jahre lässig abgleiten! Du trugst eine hellbraune, entzückende Sportdreß
und liefst in Deiner unvergleichlich leichten knabenhaften Art die Treppe
hinaus, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Den Hut trugst Du in der
Hand, so sah ich mit einem gar nicht zu schildernden Erstaunen Dein helles,
lebendiges Gesicht mit dem jungen Haar: wirklich, ich erschrak vor
Erstaunen, wie jung, wie hübsch, wie federnd-schlank und elegant Du warst.
Und ist es nicht seltsam: in dieser ersten Sekunde empfand ich ganz deutlich
das, was ich und alle anderen an Dir als so einzig mit einer Art Überraschung
immer wieder empfinden: daß Du irgendein zwiefacher Mensch bist, ein
heißer, leichtlebiger, ganz dem Spiel und dem Abenteuer hingegebener Junge,
und gleichzeitig in Deiner Kunst ein unerbittlich ernster, pflichtbewußter,
unendlich belesener und gebildeter Mann. Unbewußt empfand ich, was dann
jeder bei Dir spürte, daß Du ein Doppelleben führst, ein Leben mit einer
hellen, der Welt offen zugekehrten Fläche, und einer ganz dunkeln, die Du
nur allein kennst – diese tiefste Zweiheit, das Geheimnis Deiner Existenz, sie
fühlte ich, die Dreizehnjährige, magisch angezogen, mit meinem ersten Blick.
Verstehst Du nun schon, Geliebter, was für ein Wunder, was für eine
verlockende Rätselhaftigkeit Du für mich, das Kind, sein mußtest! Einen
Menschen, vor dem man Ehrfurcht hatte, weil er Bücher schrieb, weil er
berühmt war in jener anderen großen Welt, plötzlich als einen jungen,
eleganten, knabenhaft heiteren, fünfundzwanzigjährigen Mann zu entdecken!
Muß ich Dir noch sagen, daß von diesem Tage an in unserem Hause, in
meiner ganzen armen Kinderwelt mich nichts interessierte als Du, daß ich mit
dem ganzen Starrsinn, der ganzen bohrenden Beharrlichkeit einer
Dreizehnjährigen nur mehr um Dein Leben, um Deine Existenz herumging.
Ich beobachtete Dich, ich beobachtete Deine Gewohnheiten, beobachtete die
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Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Title
- Amok
- Subtitle
- Novellen einer Leidenschaft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Categories
- Weiteres Belletristik