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Menschen, die zu Dir kamen, und all das vermehrte nur, statt sie zu mindern,
meine Neugier nach Dir selbst, denn die ganze Zwiefältigkeit Deines Wesens
drückte sich in der Verschiedenheit dieser Besuche aus. Da kamen junge
Menschen, Kameraden von Dir, mit denen Du lachtest und übermütig warst,
abgerissene Studenten, und dann wieder Damen, die in Autos vorfuhren,
einmal der Direktor der Oper, der große Dirigent, den ich ehrfürchtig nur am
Pulte von fern gesehen, dann wieder kleine Mädel, die noch in die
Handelsschule gingen und verlegen in die Tür hineinhuschten, überhaupt viel,
sehr viel Frauen. Ich dachte mir nichts Besonderes dabei, auch nicht, als ich
eines Morgens, wie ich zur Schule ging, eine Dame ganz verschleiert von Dir
weggehen sah – ich war ja erst dreizehn Jahre alt, und die leidenschaftliche
Neugier, mit der ich Dich umspähte und belauerte, wußte im Kinde noch
nicht, daß sie schon Liebe war.
Aber ich weiß noch genau, mein Geliebter, den Tag und die Stunde, wann
ich ganz und für immer an Dich verloren war. Ich hatte mit einer
Schulfreundin einen Spaziergang gemacht, wir standen plaudernd vor dem
Tor. Da kam ein Auto angefahren, hielt an, und schon sprangst Du mit Deiner
ungeduldigen, elastischen Art, die mich noch heute an Dir immer hinreißt,
vom Trittbrett und wolltest in die Tür. Unwillkürlich zwang es mich, Dir die
Tür aufzumachen, und so trat ich Dir in den Weg, daß wir fast
zusammengerieten. Du sahst mich an mit jenem warmen, weichen,
einhüllenden Blick, der wie eine Zärtlichkeit war, lächeltest mir – ja, ich kann
es nicht anders sagen, als: zärtlich zu und sagtest mit einer ganz leisen und
fast vertraulichen Stimme: »Danke vielmals, Fräulein.«
Das war alles, Geliebter, aber von dieser Sekunde, seit ich diesen weichen,
zärtlichen Blick gespürt, war ich Dir verfallen. Ich habe ja später, habe es bald
erfahren, daß Du diesen umfangenden, an Dich ziehenden, diesen
umhüllenden und doch zugleich entkleidenden Blick, diesen Blick des
gebornen Verführers, jeder Frau hingibst, die an dich streift, jedem
Ladenmädchen, das Dir verkauft, jedem Stubenmädchen, das Dir die Tür
öffnet, daß dieser Blick bei Dir gar nicht bewußt ist als Wille und Neigung,
sondern daß Deine Zärtlichkeit zu Frauen ganz unbewußt Deinen Blick weich
und warm werden läßt, wenn er sich ihnen zuwendet. Aber ich, das
dreizehnjährige Kind, ahnte das nicht: ich war wie in Feuer getaucht. Ich
glaubte, die Zärtlichkeit gelte nur mir, nur mir allein, und in dieser einen
Sekunde war die Frau in mir, der Halbwüchsigen, erwacht und war diese Frau
Dir für immer verfallen.
»Wer war das?« fragte meine Freundin. Ich konnte ihr nicht gleich
antworten. Es war mir unmöglich, Deinen Namen zu nennen: schon in dieser
einen, dieser einzigen Sekunde war er mir heilig, war er mein Geheimnis
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Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Title
- Amok
- Subtitle
- Novellen einer Leidenschaft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Categories
- Weiteres Belletristik