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viereckigen Fleck hatte, war mir entsetzlich. Ich fürchtete, Du könntest ihn
bemerken und mich verachten; darum drückte ich immer die Schultasche
darauf, wenn ich die Treppen hinauflief, zitternd vor Angst, Du würdest ihn
sehen. Aber wie töricht war das: Du hast mich ja nie, fast nie mehr angesehen.
Und doch: ich tat eigentlich den ganzen Tag nichts als auf Dich warten und
Dich belauern. An unserer Tür war ein kleines messingenes Guckloch, durch
dessen kreisrunden Ausschnitt man hinüber auf Deine Tür sehen konnte.
Dieses Guckloch – nein, lächle nicht, Geliebter, noch heute, noch heute
schäme ich mich jener Stunden nicht! – war mein Auge in die Welt hinaus,
dort, im eiskalten Vorzimmer, scheu vor dem Argwohn der Mutter, saß ich in
jenen Monaten und Jahren, ein Buch in der Hand, ganze Nachmittage auf der
Lauer, gespannt wie eine Saite und klingend, wenn Deine Gegenwart sie
berührte. Ich war immer um Dich, immer in Spannung und Bewegung; aber
Du konntest es so wenig fühlen wie die Spannung der Uhrfeder, die Du in der
Tasche trägst und die geduldig im Dunkel Deine Stunden zählt und mißt,
Deine Wege mit unhörbarem Herzpochen begleitet und auf die nur einmal in
Millionen tickender Sekunden Dein hastiger Blick fällt. Ich wußte alles von
Dir, kannte jede Deiner Gewohnheiten, jede Deiner Krawatten, jeden Deiner
Anzüge, ich kannte und unterschied bald Deine einzelnen Bekannten und
teilte sie in solche, die mir lieb und solche, die mir widrig waren: von
meinem dreizehnten bis zu meinem sechzehnten Jahre habe ich jede Stunde in
Dir gelebt. Ach, was für Torheiten habe ich begangen! Ich küßte die
Türklinke, die Deine Hand berührt hatte, ich stahl einen Zigarrenstummel,
den Du vor dem Eintreten weggeworfen hattest, und er war mir heilig, weil
Deine Lippen daran gerührt. Hundertmal lief ich abends unter irgendeinem
Vorwand hinab auf die Gasse, um zu sehen, in welchem Deiner Zimmer Licht
brenne und so Deine Gegenwart, Deine unsichtbare, wissender zu fühlen. Und
in den Wochen, wo Du verreist warst – mir stockte immer das Herz vor
Angst, wenn ich den guten Johann Deine gelbe Reisetasche hinabtragen sah –,
in diesen Wochen war mein Leben tot und ohne Sinn. Mürrisch, gelangweilt,
böse ging ich herum und mußte nur immer achtgeben, daß die Mutter an
meinen verweinten Augen nicht meine Verzweiflung merke.
Ich weiß, das sind alles groteske Überschwänge, kindische Torheiten, die
ich Dir da erzähle. Ich sollte mich ihrer schämen, aber ich schäme mich nicht,
denn nie war meine Liebe zu Dir reiner und leidenschaftlicher als in diesen
kindlichen Exzessen. Stundenlang, tagelang könnte ich Dir erzählen, wie ich
damals mit Dir gelebt, der Du mich kaum von Angesicht kanntest, denn
begegnete ich Dir auf der Treppe und gab es kein Ausweichen, so lief ich, aus
Furcht vor Deinem brennenden Blick, mit gesenktem Kopf an Dir vorbei wie
einer, der ins Wasser stürzt, nur daß mich das Feuer nicht versenge.
Stundenlang, tagelang könnte ich Dir von jenen Dir längst entschwundenen
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Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Title
- Amok
- Subtitle
- Novellen einer Leidenschaft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Categories
- Weiteres Belletristik