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Jahren erzählen, den ganzen Kalender Deines Lebens aufrollen; aber ich will
Dich nicht langweilen, will Dich nicht quälen. Nur das schönste Erlebnis
meiner Kindheit will ich Dir noch anvertrauen, und ich bitte Dich, nicht zu
spotten, weil es ein so Geringes ist, denn mir, dem Kinde, war es eine
Unendlichkeit. An einem Sonntag muĂź es gewesen sein, du warst verreist,
und Dein Diener schleppte die schweren Teppiche, die er geklopft hatte,
durch die offene WohnungstĂĽr. Er trug schwer daran, der Gute, und in einem
Anfall von Verwegenheit ging ich zu ihm und fragte, ob ich ihm nicht helfen
könnte. Er war erstaunt, aber ließ mich gewähren, und so sah ich – vermöchte
ich Dirs doch nur zu sagen, mit welcher ehrfĂĽrchtigen, ja frommen
Verehrung! – Deine Wohnung von innen, Deine Welt, den Schreibtisch, an
dem Du zu sitzen pflegtest und auf dem in einer blauen Kristallvase ein paar
Blumen standen, Deine Schränke, Deine Bilder, Deine Bücher. Nur ein
flĂĽchtiger, diebischer Blick war es in Dein Leben, denn Johann, der Getreue,
hätte mir gewiß genaue Betrachtung gewehrt, aber ich sog mit diesem einen
Blick die ganze Atmosphäre ein und hatte Nahrung für meine unendlichen
Träume von Dir im Wachen und Schlaf.
Dies, diese rasche Minute, sie war die glĂĽcklichste meiner Kindheit. Sie
wollte ich Dir erzählen, damit Du, der Du mich nicht kennst, endlich zu ahnen
beginnst, wie ein Leben an Dir hing und verging. Sie wollte ich Dir erzählen
und jene andere noch, die fĂĽrchterlichste Stunde, die jener leider so
nachbarlich war. Ich hatte – ich sagte es Dir ja schon – um Deinetwillen an
alles vergessen, ich hatte auf meine Mutter nicht acht und kĂĽmmerte mich um
niemanden. Ich merkte nicht, daß ein älterer Herr, ein Kaufmann aus
Innsbruck, der mit meiner Mutter entfernt verschwägert war, öfter kam und
länger blieb, ja, es war mir nur angenehm, denn er führte Mama manchmal in
das Theater, und ich konnte allein bleiben, an Dich denken, auf Dich lauern,
was ja meine höchste, meine einzige Seligkeit war. Eines Tages nun rief mich
die Mutter mit einer gewissen Umständlichkeit in ihr Zimmer; sie hätte ernst
mit mir zu sprechen. Ich wurde blaß und hörte mein Herz plötzlich hämmern:
sollte sie etwas geahnt, etwas erraten haben? Mein erster Gedanke warst Du,
das Geheimnis, das mich mit der Welt verband. Aber die Mutter war selbst
verlegen, sie küßte mich (was sie sonst nie tat) zärtlich ein- und zweimal, zog
mich auf das Sofa zu sich und begann dann zögernd und verschämt zu
erzählen, ihr Verwandter, der Witwer sei, habe ihr einen Heiratsantrag
gemacht, und sie sei, hauptsächlich um meinetwillen, entschlossen, ihn
anzunehmen. HeiĂźer stieg mir das Blut zum Herzen: nur ein Gedanke
antwortete von innen, der Gedanke an Dich. »Aber wir bleiben doch hier?«
konnte ich gerade noch stammeln. »Nein, wir ziehen nach Innsbruck, dort hat
Ferdinand eine schöne Villa.« Mehr hörte ich nicht. Mir ward schwarz vor
den Augen. Später wußte ich, daß ich in Ohnmacht gefallen war; ich sei, hörte
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Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Title
- Amok
- Subtitle
- Novellen einer Leidenschaft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Categories
- Weiteres Belletristik