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mein Antlitz. Ich sterbe leicht, denn Du fühlst es nicht von ferne. Täte es Dir
weh, daß ich sterbe, so könnte ich nicht sterben.
Ich kann nicht mehr weiter schreiben … mir ist so dumpf im Kopfe … die
Glieder tun mir weh, ich habe Fieber … ich glaube, ich werde mich gleich
hinlegen müssen. Vielleicht ist es bald vorbei, vielleicht ist mir einmal das
Schicksal gütig, und ich muß es nicht mehr sehen, wie sie das Kind
wegtragen … Ich kann nicht mehr schreiben. Leb wohl, Geliebter, leb wohl,
ich danke Dir … Es war gut, wie es war, trotz alledem … ich will Dirs
danken bis zum letzten Atemzug. Mir ist wohl: ich habe Dir alles gesagt, Du
weißt nun, nein, Du ahnst nur, wie sehr ich Dich geliebt, und hast doch von
dieser Liebe keine Last. Ich werde Dir nicht fehlen – das tröstet mich. Nichts
wird anders sein in Deinem schönen, hellen Leben … ich tue Dir nichts mit
meinem Tod … das tröstet mich, Du Geliebter.
Aber wer … wer wird Dir jetzt immer die weißen Rosen senden zu Deinem
Geburtstag? Ach, die Vase wird leer sein, der kleine Atem, der kleine Hauch
von meinem Leben, der einmal im Jahre um Dich wehte, auch er wird
verwehen! Geliebter, höre, ich bitte Dich … es ist meine erste und letzte Bitte
an Dich … tu mirs zuliebe, nimm an jedem Geburtstag – es ist ja ein Tag, wo
man an sich denkt – nimm da Rosen und tu sie in die Vase. Tu’s, Geliebter, tu
es so, wie andere einmal im Jahre eine Messe lesen lassen für eine liebe
Verstorbene. Ich aber glaube nicht an Gott mehr und will keine Messe, ich
glaube nur an Dich, ich liebe nur Dich und will nur in Dir noch
weiterleben … ach, nur einen Tag im Jahr, ganz, ganz still nur, wie ich neben
Dir gelebt … Ich bitte Dich, tu es, Geliebter … es ist meine erste Bitte an
Dich und die letzte … ich danke Dir … ich liebe Dich, ich liebe Dich … lebe
wohl …
*
Er legte den Brief aus den zitternden Händen. Dann sann er lange nach.
Verworren tauchte irgendein Erinnern auf an ein nachbarliches Kind, an ein
Mädchen, an eine Frau im Nachtlokal, aber ein Erinnern, undeutlich und
verworren, so wie ein Stein flimmert und formlos zittert am Grunde
fließenden Wassers. Schatten strömten zu und fort, aber es wurde kein Bild.
Er fühlte Erinnerungen des Gefühls und erinnerte sich doch nicht. Ihm war,
als ob er von all diesen Gestalten geträumt hätte, oft und tief geträumt, aber
doch nur geträumt. Da fiel sein Blick auf die blaue Vase vor ihm auf dem
Schreibtisch. Sie war leer, zum erstenmal leer seit Jahren an seinem
Geburtstag. Er schrak zusammen: ihm war, als sei plötzlich eine Tür
unsichtbar aufgesprungen, und kalte Zugluft ströme aus anderer Welt in
seinen ruhenden Raum. Er spürte einen Tod und spürte unsterbliche Liebe:
innen brach etwas aus in seiner Seele, und er dachte an die Unsichtbare
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Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Title
- Amok
- Subtitle
- Novellen einer Leidenschaft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Categories
- Weiteres Belletristik