Page - 30 - in Anna Freud - Gedichte – Prosa – Übersetzungen
Image of the Page - 30 -
Text of the Page - 30 -
ANNA FREUDS LITERARISCHE TExTE EINFÜHRUNG
30
tiert in seiner Freud-Biografie eine auf mündlicher Mitteilung basieren-
de Äußerung Annas, der zufolge sie im Jahr 1917 den Wunsch geäußert
habe, Medizin zu studieren 104 Ein Brief an Lou Andreas-Salomé im März
1924 scheint das zu bestätigen: Seit ich auf der psychiatrischen Klinik bin
und die Einstellung der Ärzte gegen Nichtärzte im allgemeinen sehe, ma-
che ich mir oft Gedanken darüber, ob ich mir nicht durch ein Medizinstu-
dium viel zukünftige Schwierigkeiten hätte ersparen können. Papa meint
noch immer, nein, und jetzt wäre es mir ja natürlich auch schon zu spät,
um anzufangen.105 1963 geht sie in einem Brief an Muriel Gardiner, die
unter dem ironischen Titel »The Seven Years of Dearth« die Nutzlosigkeit
ihres Medizinstudiums für ihren Beruf als Psychoanalytikerin dargelegt
hatte, noch einmal ausführlicher auf dieses Thema ein: You know, what
you describe is exactly the reason my father prevented me from studying
medicine, in spite of all the practical advantages. He even used the same
argumentation: that I would never be able to use with a patient what I
would learn; that it would not widen my horizon, on the contrary make it
more narrow; that my best strength and efforts would go into it, instead
of going into analysis itself, etc.106 Dass diese Ablehnung des Medizinstu-
diums für seine Tochter nicht geschlechtsspezifisch motiviert war, be-
zeugen die Ausführungen Martin Freuds, dass der Vater auch seine Söhne
mit aller Kraft und größter Entschiedenheit von einem Medizinstudium107
abgehalten habe Andere Quellen bestätigen ebenfalls, dass es nicht der
misogyne Diskurs seiner Zeit gegen das Frauenstudium war, der Freud
antrieb, wenn er Anna nicht als Medizinstudentin sehen wollte: Als sein
Schüler Fritz Wittels 1907 in der »Fackel« unter dem Pseudonym Avicenna
einen Essay über »Weibliche Ärzte« veröffentlicht hatte, der an Verstie-
genheit alle anderen Streitschriften ähnlichen Tenors übertraf, war es
Freud selbst, der in der Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft Wittels’
Herleitung weiblicher Interessen für die Medizin aus hysterischer Verkeh-
rung trocken zurückwies. Es ist ein geiler, im bürgerlichen und wohl auch
104 Gay, Freud, S 489 u S 790, Anm 98
105 LAS-AF, I, S 285 f , Brief v 3 März 1924
106 Zitat aus einem Brief von Anna Freud v 8 April 1963 an Muriel Gardiner Bulle-
tin of the Hampstead Clinic 6 (1983), H 1, S 63 f
107 Martin Freud, Mein Vater Sigmund Freud, S 27
Anna Freud
Gedichte – Prosa – Übersetzungen
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Anna Freud
- Subtitle
- Gedichte – Prosa – Übersetzungen
- Editor
- Brigitte Spreitzer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79497-4
- Size
- 13.5 x 21.0 cm
- Pages
- 144
- Keywords
- Anna Freud, Psychoanalyse, Literatur, Frauengeschichte, Geschichte des Judentums, Wiener Moderne
- Categories
- Weiteres Belletristik