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ANNA FREUDS LITERARISCHE TExTE EINFÜHRUNG 33
Kulturelle Kreativität, so Alison Rose in ihrer Studie »Jewish Women
in Fin de Siècle Vienna«, war eine der Möglichkeiten, die Frauen des jü-
dischen Bürgertums ansteuerten, um ihren Weg durch die Moderne zu
finden.123 Die Navigation war schwierig, denn einerseits hatten sie von
den Emanzipationsbestrebungen profitiert, in deren Sinn auch die Bil-
dung der Töchter lag, andererseits waren sie geprägt von einem gesell-
schaftlichen Common Sense, der den Entwicklungsmöglichkeiten von
Frauen nach wie vor enge Grenzen zog 124 Der ›Aufbruch ins Jahrhundert
der Frau‹125 war nicht nur für Anna Freud nicht immer ganz leicht. Der
Beruf der Schriftstellerin wurde einerseits um 1900 auch für Frauen ein
attraktives Ziel Andererseits war es gerade auch die kulturell produkti-
ve Frau, die Wiener Antifeministen wie Weininger oder Kraus zur Ziel-
scheibe von Kritik und Spott machten Kann die Frau kreativ sein? Und
wenn ja: ist sie dann noch eine Frau? Solche Fragen beschäftigen um die
Jahrhundertwende nicht etwa nur eingefleischte Emanzipationsgegner,126
sondern Wegbereiter der Moderne wie den Soziologen Georg Simmel
ebenso wie Sigmund Freud – den eigenen Vater. Frau-Sein und Künstler-
Werden erscheint den beiden – und sie sollen hier stellvertretend für
viele stehen – ein Widerspruch in sich Was die Frauen geben, so Simmel,
der in langer philosophischer Tradition das Weibliche mit dem ›Sein‹, das
Männliche mit dem ›Werden‹ assoziiert, ist (…) ein Unmittelbares, ein in
ihnen verbleibendes Sein, das, indem es den Mann berührt, in ihm etwas
auslöst, was phänomenologisch mit jenem gar keine Ähnlichkeit hat; erst
in ihm wird es ›Kultur‹.127 Freud argumentiert anders: Weil Frauen kein so
starkes Über-Ich ausbilden wie Männer, sind sie auch weniger zur Trieb-
sublimierung fähig und vollbringen daher nicht nur weniger Leistungen
auf dem Gebiet der Kultur, sondern treten sogar in ein feindliches Ver-
hältnis zu ihr 128 Allem Anschein nach – Freud betont nämlich durchaus,
123 Rose, Jewish Women, S 181
124 Rose, Jewish Women, S 89, S 93, S 153 und passim
125 So der Titel einer Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien
v 21 September 1989 bis 21 Jänner 1990
126 Vgl. Beispiele dazu Spreitzer, Texturen, S. 38 ff., S. 98 f.
127 Simmel, Zur Philosophie der Kultur, S 237
128 StA Ix, S 233 in Verb mit StA V, S 278; StA III, S 303 in Verb mit StA V, S 85 f ,
S 140 f
Anna Freud
Gedichte – Prosa – Übersetzungen
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Anna Freud
- Subtitle
- Gedichte – Prosa – Übersetzungen
- Editor
- Brigitte Spreitzer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79497-4
- Size
- 13.5 x 21.0 cm
- Pages
- 144
- Keywords
- Anna Freud, Psychoanalyse, Literatur, Frauengeschichte, Geschichte des Judentums, Wiener Moderne
- Categories
- Weiteres Belletristik