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ANNA FREUDS LITERARISCHE TExTE EINFÜHRUNG 43
wieder zu schonen, und er gewährt ihm, immer scheinbar im Begriff, ihm
Übles zuzufügen, Begünstigung nach Begünstigung. Oder aus einer späteren
Periode der Erzählung: Der Graf trifft den Gefangenen außerhalb der Gren-
zen, die seiner Bewegungsfreiheit gezogen sind, aber er verschmäht es, ihn
wie erwartet mit neuer Kerkerhaft dafür zu bestrafen; er ertappt ihn ein an-
dermal auf der Übertretung eines ihm auferlegten Verbotes, aber er erspart
ihm selber dann die öffentliche Demütigung, die darauf gesetzt war; er legt
ihm Entbehrungen auf, und der Gefangene fühlt dann den Genuß des wieder
Gewährten nur um so deutlicher. – All das geschieht in lebhaft ausgeführten
und dramatisch bewegten Szenen. In jeder von ihnen lebt die Tagträumerin
die Angst und Standhaftigkeit des bedrohten Knaben in vollster Erregung
mit. In dem Augenblick, in dem sich in dem Peiniger Zorn und Wut in Mitleid
und Güte verwandeln, also in dem erreichten Höhepunkt jeder Szene, löst
sich diese Erregung in ein reines Glücksgefühl. (…)
Überblicken wir die geschilderten Einzelstücke des Rittertagtraums im
Zusammenhang, so erstaunt uns die Monotonie, die sich in ihnen ausdrückt.
Die Tagträumerin selber – ein sonst nicht unintelligentes und in ihrer Lek-
türe anspruchsvolles Mädchen – hatte sie nie, weder beim Phantasieren,
noch beim Erzählen in der Analyse bemerkt. Aber die verschiedenen Sze-
nen der Rittergeschichte bieten, ihres Beiwerks entkleidet, das sie auf den
ersten Blick als individuell verschieden, bewegt und lebhaft erscheinen läßt,
in jedem Fall das nämliche Gerüst: ein Starker und ein Schwacher im Ge-
gensatz zueinander; ein meist unfreiwilliges Vergehen des Schwachen, das
ihn dem andern ausliefert; dessen drohende Haltung, die zu den schlimms-
ten Befürchtungen berechtigt; ein langsames, oft mit raffinierten Mitteln
geschildertes Steigen der Angst fast bis zur Unerträglichkeit; und dann als
lustvollen Höhepunkt die Lösung, Verzeihung, Versöhnung und einen Au-
genblick des völligen Sicheinsfühlens der beiden Gegner. Das ist übrigens
mit geringen Variationen auch die Struktur jeder Einzelszene in allen ande-
ren sogenannten ›schönen Geschichten‹ unserer Tagträumerin.173
Mithilfe eines Strukturvergleichs der ›schönen‹ und der ›hässlichen‹
Geschichten weist die Vortragende deren gemeinsame Wurzel nach:
Ich zitiere hier aus der großen Hauptgeschichte, so weit sie eben in der
Analyse bekannt geworden ist. Zum Beispiel: In manchen Szenen wird dort
173 Anna Freud, Schlagephantasie und Tagtraum, S. 147 ff.
Anna Freud
Gedichte – Prosa – Übersetzungen
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Anna Freud
- Subtitle
- Gedichte – Prosa – Übersetzungen
- Editor
- Brigitte Spreitzer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79497-4
- Size
- 13.5 x 21.0 cm
- Pages
- 144
- Keywords
- Anna Freud, Psychoanalyse, Literatur, Frauengeschichte, Geschichte des Judentums, Wiener Moderne
- Categories
- Weiteres Belletristik