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ANNA FREUDS LITERARISCHE TExTE EINFÜHRUNG
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die Niederschrift als solche der ehrgeizigen Strebung Befriedigung und da-
durch der Verfasserin indirekt Lust verschafft. Mit diesem Verzicht auf den
direkten Lustbezug schwindet aber auch die Bevorzugung bestimmter Stü-
cke des Inhalts – der Höhepunkt des Tagtraums –, die zur Lustgewinnung
besonders geeignet waren, ebenso fallen in der Niederschrift (wie die Auf-
nahme der Folterszene zeigt) die Beschränkungen fort, die dem Tagtraum
die Ausführung von Situationen aus der Schlagephantasie verboten hatten.
Die Niederschrift behandelt eben alle Stücke des Tagtrauminhalts gleichmä-
ßig als objektives Material und läßt sich bei der Auswahl aus ihnen durch die
Rücksicht auf Darstellbarkeit leiten. Denn je besser die Darstellung gelingt,
desto größer ist die Wirkung auf andere und damit der indirekte Lustbezug.
Die Verfasserin verzichtet also, dieser Wirkung zuliebe, auf die persönliche
Lust und vollbringt damit eine Wendung vom Autismus zum Sozialen. Wir
können sagen: sie bahnt sich so den Rückweg aus dem Phantasieleben in
die Realität.177
Mit der Veranschaulichung des Prozesses, der von der privaten Fan-
tasietätigkeit zu für die Öffentlichkeit geschriebenen Texten führt, ent-
wickelt Anna Freud de facto ein Stück psychoanalytische Theorie der
Kunst Das scheint ihre Zuhörerschaft am 31 Mai 1922 nicht verstanden
oder nicht interessiert zu haben: In der anschließenden Diskussion, so
Anna an Lou, haben sich die meisten leider in die Schlagephantasie verbis-
sen; nur Bernfeld hat auch den mir so viel lieberen ›schönen Geschichten‹
und der Niederschrift Ehre angetan.178 Die Triebtheoretiker dominieren die
Szene … Anna Freud verwendet die Bezeichnung ›schöne Geschichten‹
durchgehend auch in ihren Briefen an Lou wie einen Terminus technicus
Sie fundierte ihn triebtheoretisch, indem sie den ödipalen Untergrund
ausleuchtete, und sie nuancierte ihn ich-psychologisch und ästhetisch,
indem sie den Motivationshintergrund der Wendung zum Sozialen nach-
zeichnete und zeigte, wie aus lustvollen Fantasien lustversprechende
Texte werden. Der Terminus fokussiert aber auch etwas, wofür ihr zu die-
ser Zeit noch keine theoretische (psychoanalytische) Basis zu Verfügung
stand: Dass eine Geschichte ›schön‹ sein will, klingt zunächst ebenso
banal wie die Feststellung von Peter von Matt: »Das Gedicht will schön
177 Anna Freud, Schlagephantasie und Tagtraum, S 159
178 LAS-AF, I, S 51
Anna Freud
Gedichte – Prosa – Übersetzungen
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Anna Freud
- Subtitle
- Gedichte – Prosa – Übersetzungen
- Editor
- Brigitte Spreitzer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79497-4
- Size
- 13.5 x 21.0 cm
- Pages
- 144
- Keywords
- Anna Freud, Psychoanalyse, Literatur, Frauengeschichte, Geschichte des Judentums, Wiener Moderne
- Categories
- Weiteres Belletristik