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ANNA FREUDS LITERARISCHE TExTE EINFÜHRUNG 49
als würde hinter diesem Nichts dann erst etwas Großes, Geheimnisvolles
und Wirkliches beginnen. – Das ist wahrscheinlich Unsinn und wie ich zum
erstenmal das Jenseits (Freuds »Jenseits des Lustprinzips«, in dem er den
Begriff des Todestriebes einführte) gelesen habe, ist mir aufgegangen,
daß dieses Ruhige und Ewige eigentlich nichts ist als »Totsein«. Über dem
allen habe ich große Sehnsucht nach der einen Rilkeelegie – der neunten
– bekommen.189 – Die neunte Duineser Elegie wird ihr auch zur lyrischen
Mitteilung einer Erfahrung, wie sie selbst sie beim Weben gemacht hat:
Weißt Du das mit dem Seiler in Rom und dem Töpfer am Nil ist, glaube ich,
ähnlich gemeint wie etwas, das mir beim Webenlernen so gut gefallen hat;
das Einfachste und Sichtbarste ist plötzlich für das andere Unzeigbare und
Unsagbare gesetzt als ob es das, besser als alles andre in sich enthalten
könnte.190 Einen Nachklang davon hören wir 1930, als sie mit dem längst
krebskranken Vater in Berlin die Anpassung einer neuen Kiefer-Prothese
abwartet, in einem Brief an Eva Rosenfeld: Die letzten zwei Wochen habe
ich so gelebt wie in der Zeit ehe ich Analytikerin war und ehe Du und Do-
rothy mich gekannt haben: mit Rilke-Gedichten und Tagträumen und einer
Weberei. Das ist auch eine Anna, nur ohne Ausleger.191 – Als Anna Lou 1922
einen selbst gefertigten Schleier schickt, meint sie: Diesmal sind in jedem
Knoten sehr viel gute Gedanken an Dich und sehr viel Hineinerzähltes, das
Du wieder herauslesen mußt; auch von Heinrich Mühsam – der Hauptfigur
des Romans, an dem Anna arbeitet –, von dem er das Vielverschlunge-
ne und die düstere Farbe geerbt hat.192 Sehr oft, so scheint es, entstehen
anstelle von Texten ohne Worte sprechende Handarbeiten; stehen die
Schleier, Decken und Kleider für das Unsagbare ein, begleiten es, gehen
dem Sagbaren voran Oder das Gehäkelte oder Gestrickte selbst ist der
Text, der Lou zur Lektüre vorgelegt wird. Mit der ›poetologischen‹ mischt
sich die erotische Handarbeits-Metaphorik der Briefe Während des Hä-
kelns an einem Kleid für Lou schreibt ihr Anna: Die Brust ist fertig und ich
wandere jetzt in langen Reihen auf Deinem Rücken auf und ab.193 Ebenso
189 LAS-AF, I, S 186
190 LAS-AF, I, S 190
191 AF-ER, S 166 f
192 LAS-AF, I, S 117
193 LAS-AF, I, S 270
Anna Freud
Gedichte – Prosa – Übersetzungen
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Anna Freud
- Subtitle
- Gedichte – Prosa – Übersetzungen
- Editor
- Brigitte Spreitzer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79497-4
- Size
- 13.5 x 21.0 cm
- Pages
- 144
- Keywords
- Anna Freud, Psychoanalyse, Literatur, Frauengeschichte, Geschichte des Judentums, Wiener Moderne
- Categories
- Weiteres Belletristik