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ANNA FREUDS LITERARISCHE TExTE EINFÜHRUNG
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Bildung einer Spaltung im Zentrum des Bewußtseinsfeldes «223 Oder in
den Worten des Freundes und Kollegen Ferenczi: Ein anderes (…) Prob-
lem, das der künstlerischen Begabung, wird in der Hysterie von seiner orga-
nischen Seite einigermassen beleuchtet. Die Hysterie ist, wie Freud sagt, ein
Zerrbild der Kunst.224 Vielleicht ist es auch der immer deutlicher werdende
Wunsch, Anna als Mitarbeiterin und Nachfolgerin zu haben, der ihn wie
der Lehrerin auch der Dichterin gegenüber leitet, wenn er seinen Einfluss
auf die Tochter nutzt, um dem Schreiben entgegenzuwirken – Hartnä-
ckig bleiben sie aber doch, die Tagträume, trotz allem Gerade neun-
undzwanzig und als Psychoanalytikerin längst aktiv geworden, bekennt
Anna: Trotzdem geht es ohne Tagträume nicht, obwohl ich doch schon so
alt bin. Aber Alter schützt vielleicht nicht einmal vor Tagträumen.225 Da hilft
auch nicht, dass sie wieder ein Stück eigener Analyse bei Papa macht und
abends mit ihm Karten spielt 226 Ein andermal schreibt sie: In meiner eige-
nen Analyse geht vielerlei vor (…). Nur meine Tagträume sind von ihr ge-
schreckt und fehlen mir manchmal sehr, wie etwas, das man eigentlich su-
chen gehen sollte.227 Leert die Psychoanalyse durch die Bewusstmachung
des Unbewussten das Reservoir, aus dem der Künstler / die Künstlerin
schöpft? In ihrer Antwort228 dachte Lou an ihren Freund und Gefährten
Rilke, der eine psychoanalytische Behandlung bei Freud zwar in Erwä-
gung gezogen hatte, jedoch den Eindruck gewann, dass er hier vor eine
Entweder-Oder-Entscheidung gestellt sei: ich bin, so Rilke, über die erns-
testen Erwägungen zu dem Ergebnis gekommen, daß ich mir den Ausweg
der Analyse nicht erlauben darf, es sei denn, daß ich wirklich entschlossen
wäre, jenseits von ihr, ein neues (möglicherweise unproduktives) Leben zu
beginnen. (...) Nun muß ich mir aber zugeben, daß es mit solchen Plänen
nie ganz ernst gewesen ist, daß ich mich vielmehr ( ...) doch unendlich stark
an das einmal Begonnene, an alles Glück und alles Elend, das es mit sich
bringt, gebunden fühle, (...) so viel (...) scheint mir sicher, daß, wenn man
223 Laplanche, Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, S 493
224 Ferenczi, Bausteine zur Psychoanalyse, S 146
225 LAS-AF, I, S 400
226 LAS-AF, I, S 399 u S 400
227 LAS-AF, I, S 326
228 LAS-AF, I, S 328
Anna Freud
Gedichte – Prosa – Übersetzungen
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Anna Freud
- Subtitle
- Gedichte – Prosa – Übersetzungen
- Editor
- Brigitte Spreitzer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79497-4
- Size
- 13.5 x 21.0 cm
- Pages
- 144
- Keywords
- Anna Freud, Psychoanalyse, Literatur, Frauengeschichte, Geschichte des Judentums, Wiener Moderne
- Categories
- Weiteres Belletristik