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ANNA FREUDS LITERARISCHE TExTE EINFÜHRUNG
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schichte in einem undatierten Gedicht auf und bildet somit das Missing
Link zwischen Lyrik und Prosa von Anna Freud Im Gedicht »Nacht«248 ist
er der Protagonist einer Geschichte, die das entkommene Vogel-Ich des
lyrischen Sprechers (oder der lyrischen Sprecherin – das Geschlecht der
Stimme, die wir vernehmen, bleibt ungewiss) in den Käfig zurücklocken
soll. Geschichten erscheinen in diesem Gedicht als karger Ersatz für Sinn-
lichkeit und Sexualität – so erbärmlich, daß / Der Hund, der drüben an der
Ecke sonnt, / Den Kopf dafür nicht von dem Knochen höbe. Insofern ist die
Figur des Egon auch das Missing Link zwischen dem, was der Tagtraum
herbeizurufen und was er in Literatur zu sublimieren versuchte – Nach
mündlichen Berichten begann Anna schon während ihrer Schulzeit »an
einer nie endenden Geschichte zu schreiben, die sie sorgfältig in große
schwarze Hefte einträgt und deren Fortsetzung sie täglich ihrer Freundin
Trude Baderle erzählt Die Geschichte handelt von einer großen Familie
mit vielen, vielen Kindern (…)«.249 1919 schreibt sie an den Vater aus Bay-
erisch Gmain: Ich habe endlich die große Kindergeschichte geschrieben.250
Von dieser ›Kindergeschichte‹ überliefert ist nur die von Anna so genann-
te ›Einleitung zu Egons Kindergeschichte‹ Jedoch begegnet uns der
Name Egon ein weiteres Mal, 1922, in einem Brief an Lou: wie wir in Göt-
tingen besprochen haben, daß in meiner Geschichte der Egon plötzlich ein-
mal den Herbst erlebt und ein andermal den Abschied.251 Genau diesen In-
halts und sogar mit Göttingen als Handlungsort ist ein undatiertes
Konzept252, dessen Hauptfigur allerdings Franz heißt. Aber die Transmu-
tation von Egon zu Franz kommt nicht von ungefähr: Ein paar Monate
später denkt Anna jetzt immer an einen einseitigen Briefwechsel zwischen
Franz und Egon, zu einer Zeit, die es aber in der alten ›Geschichte‹ nicht ge-
geben hat.253 Und wieder etwas mehr als ein Jahr darauf, im September
1924, heißt es: Mir geht jetzt eine Geschichte sehr viel im Kopf herum (…).
248 Nr. 19
249 Uwe Henrik Peters, einer der ersten Biografen Anna Freuds, zitiert hier aus
persönlichen Mitteilungen Gertrude Baderle-Hollsteins, einer Schulfreundin
von Anna Freud Peters, Anna Freud, S 47, S 31
250 SF-AF, S 244
251 LAS-AF, I, S 119
252 Nr. 61
253 LAS-AF, I, S 211
Anna Freud
Gedichte – Prosa – Übersetzungen
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Anna Freud
- Subtitle
- Gedichte – Prosa – Übersetzungen
- Editor
- Brigitte Spreitzer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79497-4
- Size
- 13.5 x 21.0 cm
- Pages
- 144
- Keywords
- Anna Freud, Psychoanalyse, Literatur, Frauengeschichte, Geschichte des Judentums, Wiener Moderne
- Categories
- Weiteres Belletristik