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ANNA FREUDS LITERARISCHE TExTE EINFÜHRUNG 63
verwechselbar ›von Anna‹ zu sein schien, und doch nur weil es sich mir ganz
in Anna selbst und ihr Symbol verkehrte.277 Kurz vor der Lektüre hatte sie
noch zuversichtlich geschrieben, es werde nun nichts mehr imstande sein,
H.M.s dauernde Menschwerdung durch Anna zu verzögern. Weißt Du,
schreibt sie der Freundin, eigentlich könnte Dir jetzt wundervoll am fakti-
schen Erleben aufgehn, woran sich Benommenheit der Tagträume von Be-
nommenheit gestaltender Arbeit unterscheidet, denn auch die Ähnlichkeit
fühlst Du sicher in diesem seltsamen Gebanntsein das für alles andere unge-
genwärtig macht.278 Lous Schreiben, in dem für sie so typischen zugleich
andeutenden und verrätselnden Stil, lässt Fragen aufkommen: Gibt es da
einen autobiografischen Hintergrund, aus dem Anna sich befreien muss,
wenn aus »Heinrich Mühsam« Literatur werden soll? Worauf spielt sie an,
als sie meint, der Stoff ›Heinrich Mühsam‹ an sich binde Anna, und zwar,
um damit ein für allemal aus einer Resignation zu geraten? Aber mehr er-
fahren wir nicht – nicht aus Lous Briefen und aus Annas Briefen auch
nicht Was wir der Passage entnehmen können, ist hingegen die Tatsa-
che, dass der Roman im Geiste wesentlich weiter fortgeschritten war als
auf dem Papier und Anna Lou nicht nur ausführlich davon erzählt, son-
dern sie damit auch regelrecht begeistert hatte. Auch das lässt Raum für
Gedankenspiele. Das erste geschriebene Stückchen – eine Widmung.
Deren Misslingen, weil sie erfolgt, bevor der Roman noch geschrieben ist
Sogar so weit könnte man gehen, in der Lisa, die Buch und Widmung
empfangen soll, eine akronymische Anspielung auf Lou zu finden: ›L‹ für
Lou, ›s‹ für Salomé, ›a‹ für Andreas. Es wird das einzige Stückchen bleiben,
das von »Heinrich Mühsam« existiert, jedenfalls heute noch auffindbar
ist Lous vorsichtig formulierte Kritik löst Selbstzweifel aus: ich glaube der
Heinrich Mühsam wird immer nur in meinem Kopf sein, wenigstens findet
er auf keine anständige Weise den Weg aus ihm heraus und unzerschunden
irgendwo auf ein Papier. Was ich dir neulich geschickt habe, war wirklich
mehr über ihn, über sein Schicksal nämlich, als in ihm. Ich weiß gar nicht,
wo es hineinsollte. Ich fange ihn jetzt doch beim richtigen Anfang an, so
geht es vielleicht besser. Aber vielleicht geht es auch überhaupt nicht und
das Ganze ist nur eine Einbildung von mir. Wenn ich das gewiß wüßte, wür-
277 LAS-AF, I, S 88
278 LAS-AF, I, S 86
Anna Freud
Gedichte – Prosa – Übersetzungen
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Anna Freud
- Subtitle
- Gedichte – Prosa – Übersetzungen
- Editor
- Brigitte Spreitzer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79497-4
- Size
- 13.5 x 21.0 cm
- Pages
- 144
- Keywords
- Anna Freud, Psychoanalyse, Literatur, Frauengeschichte, Geschichte des Judentums, Wiener Moderne
- Categories
- Weiteres Belletristik