Page - 66 - in Anton Kuh - Biographie
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raten müssen, wenn sie überhaupt geraten sollen, und daß sie dann in
einem tieferen Sinn geraten werden als die vorherigen jungen Genera-
tionen. […] Eine grundneue, weil neu begründende Anschauung über-
haupt, Anschauung der ›menschlichen Idee‹, weil des Menschen selbst.
Ein Idealismus, der sich da noch bewähren soll, wird, in jedem Sinne,
aus dem Blute empor steigen müssen.«120
In der Vollversammlung der »deutschen« Reichsratsabgeordneten im
Niederösterreichischen Landhaus in der Wiener Herrengasse wird am
21. Oktober 1918 um 5 Uhr nachmittags die Provisorische National-
versammlung und damit der Staat Deutschösterreich konstituiert. Ein
feierlicher MomentÂ
– für dessen Ernst Kuh kein Organ hat: »Deutsch-
österreich ist am Marsch. (Phonetisch zu lesen.) Das Volk tut, wozu es
in großen Zeiten berufen scheint: es besinnt sich, ermannt sich, wacht
auf, zeigt sich entschlossen. Wie das zugeht? So: / Nach dem Tage, an
dem die Bürgerin Beer-Angerer aus dem Café ›Siller‹ aufbrach, allwo sie
die Häkelnadel und die ›Wiener Mode‹ fallen ließ, um sich ihrer rheto-
rischen Pflichten zu erinnern und ein demokratisches ›Gott erhalte!‹
anzustimmen – an dem der Graf Andrássy seine Ansprache mit der
Wendung: ›Ich empfehle mich‹ schloß, die er hier von Kaffeesiedern und
Gastwirten so oft gehört hatte, daß er sie für das landesübliche ›Eljen!‹121
hielt – an dem ein Polizeikordon von fünfhundert Mann dazu aufge-
boten war, der Volksneugierde ein beunruhigendes Aussehen zu ver-
leihenÂ
– nach diesem Tage gab die deutsche Nationalversammlung dem
Volke eine Verfassung. Ein Mann klatschte von der Galerie Beifall. Der
Präsident Seitz schrieb ihn ins Klassenbuch und ließ ihn hundertmal
abschreiben: ›Ich soll die auf Volkswunsch versammelten Abgeordneten
Deutschösterreichs nicht in den ihnen in heiligster Stunde übertragenen
Pflichten stören.‹ […] Kein Wunder, daß sich vor dem Ständehaus […]
massenhaft Volk ansammelte, auf Laternen kletterte, Redner auf den
Balkon zitierte, ihnen mit ›Hoch!‹- und ›Nieder!‹-Rufen entgegenschrie,
sich zu teils sozialistischen, teils nationalistischen Zügen alliierteÂ
– kurz:
daß jene Sphäre entstand, aus der in Altösterreichs Tagen rauschend
entweder die Volkshymne und das ›Prinz-Eugen‹-Lied emporstieg oder
sich der Ruf losrang: ›Pfui, Jud!‹ […] / [D]ie Wiener Volkswut […] hat
nur eine Sehnsucht nach dem Auflauf, sei es der Straßen-, sei es der
Reisauflauf. / Immerhin war es schwer, sich in dem demokratisch-
republikanisch-nationalistischen Straßenwirbel zu orientieren. Die Ge-
sinnung schoß jeden Augenblick ein begeistert aufgenommenes GoalÂ
–
aber man wußte nicht, wohin: bald lag der Ball im monarchischen, bald
im staatlichen, bald im slawischen Netz. Das Volk schrie: ›Goal!‹ Es
war aber immer Out: (›Nidda mit Lloyd George!‹) / Ich notiere an
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Anton Kuh
Biographie
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Anton Kuh
- Subtitle
- Biographie
- Author
- Walter Schübler
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3189-1
- Size
- 13.8 x 22.2 cm
- Pages
- 576
- Category
- Biographien