Page - 72 - in Anton Kuh - Biographie
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keiten gezeitigt habe,* die Politisierung der Intellektuellen und deren
Organisierung unter der Devise »Der Geist marschiert«. Geist könne
»niemals Richtung, Tendenz, Klassendevise sein«; Geist sei »der un-
geselligste Geist unter der Sonne. Er hat eine Scheu vor der Massen-
akustik, vor Aufzügen, Emblemen, Redensarten, vor allem aber vor
dem donquichotisch-pathetischen: ›Wir‹.«
Kurt Hiller aber, der Initiator und führende Repräsentant der »geisti-
gen Rätebewegung« in Deutschland, »transpirier[e] in Sperrdruck und
Ausrufungszeichen«.137 Der von ihm mitbegründete Berliner »Politische
Rat geistiger Arbeiter« – er soll sich als Ausschuß der intellektuellen
Elite mit dem gewählten Parlament die politische Herrschaft teilen –
scheint Kuh ein »geistiger Betätigungsrat« zu sein. Erst recht der nach
Berliner Vorbild gebildete Wiener »Bund der geistig Tätigen«, eine
Mitte November 1918 formierte aktivistische Vereinigung: eine An-
gelegenheit »idealistischer Schrullenköpfe«, salopp gesprochen: eine
bürgerliche Gschaftlhuberei.138
Als dann auch noch die Wiener Mittelschüler ihrer Forderung,
Schülerräte als Organe der Schülerselbstverwaltung einzurichten, am
18. Dezember 1918 mit einem Demonstrationszug vom Schwarzen-
bergplatz in die Herrengasse, den Sitz des Landesschulrats, Nachdruck
verleihen, platzt Kuh der Kragen. Diese ganze Rebellion mit »ihre[n]
Meetings, ihre[n] Resolutionen, ihr[em] Demonstrationszug samt allen
getreulich abgelauschten Formen des Polizeizusammenstoßes«: nach-
äffendes »Gernegroßtum« – wie schon »im Krieg ihr Scharfschießen
und Farbentragen139, ihre rang- und titelernennende, ober- und unter-
abteilungsfrohe Militärspielerei« – und damit wenig hoffnungsvolles
»Konterfei der Väter«. Nichts dagegen zu sagen, daß sie die »Mittel-
schulmonarchien in freie Republiken« umwandeln wollen, aber daß sie
die Lehrpläne »den rein praktischen Forderungen der Zeit« angepaßt
wissen wollen** und damit, wie Kuh es sieht, »mit gangbarstem Tages-
* Anton Kuh: Die »Guten«. In: Der Morgen, Jg. 10, Nr. 16, 21.4.1919, S. 5
[Nr. 372]: »Billiges Weltmitleid kam erbarmungsloser Diagnostik zuvor.
Da haben wir nun die Folge: Jeder intellektuelle Hinz und jeder eitle Kunz
ist ein Miniatur-Christus geworden, bereit, zu segnen, zu salbadern,
zu orakeln, rien comprendre und tout pardonner. Jeder Schleimschreiber
und Gedankenpunktwitzling, Meinungsmakler und Individual-Dilettant
schließt der Menschheit ganzen Jammer in seine Brust ein, posaunt Zwei-
Kreuzer-Phrasen ins Weltall, spricht blutloses, schales Druckzeug durch
einen ethischen Riesenschalltrichter.«
** Der Forderungskatatlog, den eine Abordnung der circa 3000 demonstrieren-
den Schüler und Schülerinnen am 18.12.1918 Landesschulinspektor Hofrat
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Anton Kuh
Biographie
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Anton Kuh
- Subtitle
- Biographie
- Author
- Walter Schübler
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3189-1
- Size
- 13.8 x 22.2 cm
- Pages
- 576
- Category
- Biographien