Page - 80 - in Anton Kuh - Biographie
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chronisch gefährdeten republikanischen Systems durch reaktionäre Ten-
denzen in Justiz und Verwaltung, durch Militarismus, völkisch-nationa-
listische Umtriebe, prolongierte Untertanen-Mentalität und Servilismus.
Der »arme Kleinstaat an der Donau, dem die Geschichte den stolzen
Namen hinterließ«, war dabei, so Kuhs Befund, zu einer »Schweiz der
Komfortlosigkeit« zu verkommen178; »der Klaube an Kott und Kaiser,
eine muffige Hörigkeits-Moral«, der »Hände auf die Bank«-Geist sei
selbst mit dem republikanisch umgemodelten »Exerzier-Reglement die-
ser Tugenden«, dem österreichischen Volksschullesebuch nämlich, auch
in die republikanische Erziehung übersiedelt.179
In die Gerichtssäle desgleichen. Auch wenn die Urteile »im Namen
der Republik« ergehen, gesprochen werden sie von denselben Richtern,
die schon »im Namen des Kaisers« ihres Amtes gewaltet hatten. Mehr
noch als über die amtsuntertänige Willfährigkeit empört sich Anton Kuh
über Gerichtspsychiater, die nicht bei Gericht sitzen, sondern zu Ge-
richt.180 Unablässig thematisiert er auch einen der brisantesten Posten
aus der Konkursmasse der Monarchie: die aufgeblasene Bürokratie, die
den Zusammenbruch beinah unbeschadet überstanden hat und mit den
Bürgern der jungen Republik mit derselben Willkür umspringt wie
weiland mit den Untertanen eines qua Gottesgnadentum regierenden
Monarchen.
Am 24. Januar 1919 bringt eine christlichsoziale Mehrheit die von
Sozialdemokraten eingebrachte Vorlage einer Eherechtsreform – die
unter anderem die Trennbarkeit der Ehe auch für Katholiken vorsieht
–,
gegen die der österreichische Episkopat per Hirtenbrief mobil macht,
zu Fall. Kuh beleuchtet unter dem vielsagenden Titel »Der Herr Surm«
in der »Neuen Berliner Zeitung« die gesellschaftspolitischen Hinter-
gründe, die zur Abstimmungsniederlage der Sozialdemokraten und
zum Scheitern der Liberalisierung des Eherechts geführt haben.181
Im Herbst 1919 demonstrieren die Wiener Couleurstudenten, die, seit
sich die Lage beruhigt hat, ihr Deutschtum wochentags wieder bei anti-
semitischen Krawallen in den Hörsälen praktizieren, ihre »abgetakelte
Weltanschauung« auch samstags beim sogenannten »Bummel«. »[D]ie
unbequeme Republik beschuldigen sie
– auf eine Verwüstung deutend,
die sie selber anrichteten, und die Richtung des Hasses rasch um einen
Winkel von 90 Graden drehend – jüdischer Abkunft. Monarchismus,
Pogrom, Schuldlosigkeit – drei Fliegen mit einem Schlag! Wie gesagt:
vor zwölf Wochen sind sie stiller gewesen. Da trauten sie sich nicht auf
die politische Gasse und waren noch ganz ›Schmachfrieden‹. […] Un-
belehrbar, unerziehbar. Mit derselben treudeutschen Gottesdemut, mit
der sie früher die Vormacht des deutschen Globus proklamierten, ver-
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Anton Kuh
Biographie
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Anton Kuh
- Subtitle
- Biographie
- Author
- Walter Schübler
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3189-1
- Size
- 13.8 x 22.2 cm
- Pages
- 576
- Category
- Biographien