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Krakeel und Radau und »nur« vereinzelt in Übergriffen auf Passanten,
Geplänkeln und Reibereien entlädt, veranlaßt die Vertreter ausländischer
Missionen, Staatskanzler Renner gegenüber ihre Besorgnis zu äußern.
Die Wiener Polizeidirektion läßt am 6. Oktober wissen, daß sie »in zu-
ständiger Wahrung öffentlicher Interessen« bis auf weiteres »die Ver-
anstaltung derartiger Kundgebungen auf der Straße nicht mehr gestatten«
werde, weil diese »nicht geeignet [seien], die dem deutschösterreichi-
schen Staate so notwendige Sympathie der maßgebenden Großmächte
zu erhalten und das für den Kredit des Staates wie der Volkswirtschaft
unerläßliche Vertrauen in unsere staatliche Ordnung zu erhalten«.
Am 23. Oktober bestreiken die Schüler aller fünf Wiener Neustädter
Mittelschulen den Unterricht und halten im Festsaal des Gymnasiums
– unter wohlwollender Anwesenheit ihrer Lehrer
– eine Protestveran-
staltung ab, weil sie nicht willens seien, »sich terrorisieren zu lassen«.
Tags zuvor haben christlichsoziale und deutschnationale Schüler und
Studenten gegen die Aufführung von Arthur Schnitzlers »Professor
Bernhardi« agitiert und vor der abendlichen Vorstellung im Stadt-
theater antisemitische Flugzettel verteilt. Im dritten Akt lautes Zischen
im Stehparterre, wo sich die Agitatoren versammelt haben, im vierten
Akt Zischen, Trampeln, »Pfui!«- und »Nieder-mit-den-Juden!«-Rufe.
Tumult. Die Vorstellung wird unterbrochen. Polizei schreitet ein. Der
Obmann des Theaterkomitees, der sozialdemokratische Vizebürger-
meister Püchler, und ein Soldatenrat Hübl mahnen die »Demonstran-
ten« zur Ruhe und beschimpfen sie als Laus- und Rotzbuben.
»Zurück zum Staberl!« ist Anton Kuhs erster Gedanke. »Aber da
widersetzt sich ja offenbar das moderne, individualistische Empfinden,
das in der Erziehung zum Masochismus allen politischen und geistigen
Schaden erblickt und darum auch ihr volkstümlichstes Symbol, das
›Staberl‹, verabscheut? Es kommt darauf an. Dort, wo die Erhebung der
Jungen gegen die Welt des Staberls als jenes Macht- und Versklavungs-
zeichens geht, wo es sich um Gehirn und Freiheit handelt – à la bon-
heur! Der eigene Rücken schmerzt uns zu sehr, als daß wir nicht mit-
schritten. Aber die Hannoveraner, die Breslauer und die Wiener
Neustädter Buben sind ja gar nicht gegen das Staberl. Ganz im Gegen-
teil. Die Staberlallmacht ist es, der hier wie dort ihre Lendenbacken
gleichsam ›entgegenjucken‹. Sie streiken für den Obrigkeits-Sadismus,
für den Staat der Züchtigungspyramide – als Fundament: Unter-Tanen,
als Spitze: der Ober-Herr –, ihre Revolte richtet sich gegen die Ab-
schaffung des politisch-militärischen Staberls. Nun denn – man gebe
ihnen, was sie so heiß begehren! Man erfülle ihre Träume und lege sie
übers Knie!
… Aber müßte man zuvor nicht das gleiche auch mit jenen
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book Anton Kuh - Biographie"
Anton Kuh
Biographie
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Anton Kuh
- Subtitle
- Biographie
- Author
- Walter Schübler
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3189-1
- Size
- 13.8 x 22.2 cm
- Pages
- 576
- Category
- Biographien