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affektieren
– die Abgrenzung gelingt nicht, selbst und vor allem sprach-
lich nicht. Kraus bestätigt damit indirekt die Analyse des Vater-Sohn-
Konflikts in jüdischen Familien, die Kuh in »Juden und Deutsche«
angestellt hatte, der verzweifelten und letztlich vergeblichen Versuche
jüdischer Söhne, sich von der väterlichen Autorität freizustrampeln.
1921
Anton Kuh kommt im Januar 1921 in eine Stadt zurück, in der vom
leichtlebigen Vorkriegsflair, von der gloriosen Vergangenheit nichts
mehr zu spüren ist. Statt dessen: Katastrophenstimmung in der aus-
gepowerten Donaumetropole, die Stadt hungert und friert, es herrscht
bittere Not und Mangel an allen Ecken und Enden. Massenarbeits-
losigkeit und galoppierende Inflation. Kriegskrüppel betteln auf den
ehemaligen Flaniermeilen der »besseren« Gesellschaft, Prostituierte
bieten sich rund um die großen Hotels an der Ringstraße den wie Heu-
schrecken einfallenden Fremden an, die auf Schnäppchen aus sind.
Es kommt zu einem Ausverkauf Österreichs an in- und ausländische
Spekulanten, die über Devisen verfügen und um einen Spottpreis Lie-
genschaften, Schlösser, Kunstgegenstände und Antiquitäten erwerben
können. Metropolitaner Glanz blitzt allenfalls in den Kulissen der
Neureichen-Invasion auf: »Heute begnügt sich der noch immer nicht
ganz erschlagene Wiener Galgenhumor damit, das ›SALVE‹ in den
Schuhabstreifern der großen Ringstraßenhotels als Abkürzung für
›Schieber Aller Länder Vereinigt Euch‹ zu deuten.«16
Das Elend räumt auch mit ehernen Gewohnheiten und Gebräuchen
unbarmherzig auf: »Die Wiener Hausmeister […] wollen anstatt des von
der Patina jahrhundertealter Übung geweihten ›Sperrsechserls‹17 ein
Sperrgeld von zwei Kronen.« Um ein Sechserl, das Zwanzighellerstück,
»sozusagen das Existenzminimum der Kosten eines Wiener Vergnügens
von vorgestern«, ist nichts mehr zu haben. »Ein Vergnügen allerdings ist
dem Wiener inmitten dieser katastrophalen ›Sechserldämmerung‹ geblie-
ben, das er sich für 20 Heller […] kaufen kann«: der Watschenmann im
Prater.18 »Er läßt sich 1920 noch immer für 20 Heller ohrfeigen. Er ist
tatsächlich das einzige, was in Wien zum alten Tarif funktioniert. / Ein
Wunder. Ein Sinnbild. Geprügelt werden kostet nicht mehr. Die ganze
Wiener Tragik leuchtet aus dem schmerzlich verzerrten Gesicht des
Watschenmannes. Was kostet ein Anzug? 17.000 Kronen! Aber eine
Ohrfeige? Eine Ohrfeige steckt der Wiener für zwanzig Heller ein.«19
Mit dem Bruch der nach den Wahlen vom 16. Feber 1919 geschlosse-
nen Koalition von Sozialdemokraten und Christlichsozialen im Jahr
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book Anton Kuh - Biographie"
Anton Kuh
Biographie
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Anton Kuh
- Subtitle
- Biographie
- Author
- Walter Schübler
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3189-1
- Size
- 13.8 x 22.2 cm
- Pages
- 576
- Category
- Biographien