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versuchten ihn vom Sakrileg abzuhalten, indem sie ihm zu verstehen
gaben, er setze sich damit dem Vorwurf aus, ein »Söldling« Békessys zu
sein. Eine Unterstellung, die sich Kuh strikt verbittet. Vielmehr habe er,
Kuh, Békessy »dazu mißbraucht«, sein Mütchen an Kraus zu kühlen.
»Ich habe es auch mit Grund getan: Denn wenn ich heute die Wahl
habe, Räuber, Libertiner in der Armee eines Karl Moor
– heiße er auch
Moor Karol
– oder Ministrant in der großen Hierarchie des Itziglismus
zu sein, so bin ich lieber Libertiner in der Räuberarmee als Kirchendiener
in einem Tempel.« Im übrigen ist ihm dies ganze eitle Literaten-Gezänk
schlicht »Tinnefologie«, eine jener »mikrobenhaften Irrsinnigkeiten«,
die auf Wiener Boden so gut gedeihen und jenseits der Stadtgrenzen
schon niemanden mehr interessieren.
Nach dieser Improvisation innerhalb der Improvisation, mit der Kuh
auf die Ausschreitungen der Kraus-Anhänger reagiert, nimmt er einen
Schluck Kognak, um seinen »geistigen Blutdruck« zu stützen. Die Er-
regung im Saal ist zwar merklich abgeflaut, die Atmosphäre aber immer
noch gespannt, und Kuh weicht der Konfrontation auch dann nicht
aus, wenn er die prekäre Ruhe aufs Spiel setzt.
Er kommt zum Kern seines Vortrags, zur Analyse des »Phänomens«
Karl Kraus und damit zu seinem Schlüsselbegriff, dem »Intelligenz-
plebejer«, jenem dem (zumeist jüdischen) »intellektuellen Kleinbürger-
tum« entstammenden Jüngling, der, steckengeblieben in der Pubertät
und damit erotisch »verpatzt«, aus der engen Stube der Mischpoche in
die Welt entlassen, seine Unsicherheit und Befangenheit durch eine
»überaus heftige und insistente Intellektualität« zu kompensieren ver-
sucht; ein »Käfigflüchtiger mit dem ganzen psychologischen Bewußt-
sein der Armseligkeit und Minderwertigkeit seiner Herkunft und mit
dem großen Bedürfnis, sich Vorhänge zu machen, daß man ihm nicht
in die Armseligkeit hineinsieht«, der »gierig-tückisch« auf »verwandte
Tonfälle im Umkreis« lauert, »um sie psychologisch zu arretieren; sein
Ohr bewahrt wie eine Meeresmuschel das unterirdische Gemauschel
der Umwelt. Oh, daß er doch allen ihre Herkunft aus derselben Dreck-
gasse beweisen könnte, um sich erhabener zu fühlen!«
Was muß jemand leisten, um vom Intelligenzplebejer als Idol an-
erkannt zu werden? – Er muß die tief empfundene Minderwertigkeit
und mangelnde Vitalität in etwas Positives ummünzen; nach dem Motto
»Qual des Lebens, Lust des Denkens«* einen »abgekürzten Weg« bieten,
* Motto von Karl Kraus’ Aphorismenband »Sprüche und Widersprüche«
(München 1909).
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Anton Kuh
Biographie
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Anton Kuh
- Subtitle
- Biographie
- Author
- Walter Schübler
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3189-1
- Size
- 13.8 x 22.2 cm
- Pages
- 576
- Category
- Biographien