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16 JüdinnenundJuden,MobilitätundSex
DieSoubrette,dieSängerinderGruppe,wolltedieTourneenichtbegleiten,da
ihrdieGagezuniedrigerschien.VonihraberhingderErfolgderGruppeab.So
bezahltederDirektor–vondenanderenEnsemblemitgliedernborgend–ihr
schließlichdengefordertenBetrag.EndlichimZug,mussteerdannhoffen,dass
seineSoubrettenichtwährendderTourneeabspringe,dasonstdasSchicksal
derGruppebesiegeltgewesenwäre.
DieseAnekdotepräsentiert einBild vonder SzenepopulärerKultur, das
vonMobilitätgeprägtwar.DieVolkssänger*innen,Kabarettist*innenundAr-
tist*innender JahrhundertwendereistenzwischendenbeidenResidenzstätten
derMonarchieebensowiezwischenAmerikaundEuropa.DieAnekdotepor-
trätiertüberaus treffenddieBedeutungunddieWichtigkeitderSängerin,der
Soubrette, für das ganzeEnsemble.DieAnekdote deutet auch an,wie hart
dasGeschäftmitderpopulärenUnterhaltungwarunddassesMobilität, eine
internationaleTätigkeit, erforderte. Indirektweist dieAnekdote zudemauf
dieoftmalsprekärenLebensumständederKünstler*innenhin. IhrLebenwar
häufigvonmonetärerNotgeprägt.VersicherungengabesfürihreBerufsgruppe
keine–umsowichtigerwurdees,dass sichdieSzene lokalwieglobal selbstzu
organisierenbegann.
DaswachsendeUnterhaltungsangebot in den Städten, das dieAnekdote
alsGrund für dieTourneederGruppebeschreibt,war allerdingsnicht der
einzigeGrund,weshalbKünstler*innenzurJahrhundertwendemobilwaren:
SienutztenauchdieneuentstandenenleichterenReisemöglichkeiten,umihr
Repertoire inunterschiedlichenStädtenzupräsentieren.
AlsderArtikel inder InternationalenArtistenRevue erschien, erhobsich
inWien,BudapestundNewYorkgerade einKlagennachden„gutenalten
Zeiten“–nachdemLebensgefühlder letztenJahrzehnte–,nach„Alt-Wien“,
„Alt-Budapest“und„Old-NewYork“.NewYorksahseinGreatYiddishThea-
teruntergehen,WienseinaltesVolkssängertumverschwindenundBudapest
seingutesaltesSzínházverloren.FüralldaswurdendieModerneunddiemit
ihr aufkommendenneuenFormenpopulärerKulturwieKabaretts, institu-
tionalisierteVolkssänger-undChansonbühnen,SingspielhallenoderVarietés
verantwortlichgemacht:DieAttitüde„Busen- stattMusentempel“3unddas
Bedürfnis, „sichzuamüsieren“breitete sich indenStädtenaus.
ImFindeSiècle änderte sichdasurbaneLebensgefühlmaßgeblich. Eine
neue„QualitätanMobilität“,wiederKulturwissenschafterMoritzCsákykon-
statiert,hatte inden letztenJahrzehntendes19. JahrhundertsWien,aberauch
Budapest, zuprägenbegonnen.4Um1900warMigrationaussozialen,ökono-
3 Reichspost,6.4.1899,9.
4 MoritzCsáky,HybrideKommunikationsräumeundMehrfachidentitäten:Zentraleuropaum
1900, in:ElisabethRöhrlich(Hg.),MigrationundInnovationum1900:Perspektivenaufdas
© 2021 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien
https://doi.org/10.7767/9783205211884 | CC BY 4.0
Auf die Tour!
Jüdinnen und Juden in Singspielhalle, Kabarett und Varieté
Zwischen Habsburgermonarchie und Amerika
- Title
- Auf die Tour!
- Subtitle
- Jüdinnen und Juden in Singspielhalle, Kabarett und Varieté
- Author
- Susanne Korbel
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21188-4
- Size
- 15.9 x 24.0 cm
- Pages
- 272
- Category
- Kunst und Kultur