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Polyglottes Habsburg | 29
macht, wodurch Kultur zu einer Kategorie des Nationalen erhoben wurde. Be-
griffe dieser Art verteidigen die Vorstellung, dass jemand, der eine andere Sprache
spricht als meine, auch eine andere Kultur hat. Sie haben eine politische Ge-
schichte, die Unterschiede in ein und demselben Herrschaftsraum aufwertet, und
zugleich die Ähnlichkeiten im selben Erfahrungsraum bewusst übersieht. Die we-
sentlichen Gründe dafür liegen auf der Hand: Vermischungen werden deshalb als
unzulässig betrachtet, weil sie bestehende Vorstellungen von sprachlich-kulturel-
len Hierarchien unterlaufen bzw. die Ausübung von „protektionistischer Tole-
ranz“ durch die Mächtigeren verhindern.20
Was auch im historischen Herrschaftsraum Habsburg Zentraleuropa geübte
nationalistische Politik war, nämlich die Erzeugung klar abgegrenzter und zuei-
nander in einem Abhängigkeitsverhältnis stehender ethnisch-kulturell grundierter
Sprachgruppen, war in demselben Erfahrungsraum keineswegs gelebte Alltags-
praxis. Sie entzog sich dieser ethnisch-kulturellen Klassifizierung völlig, die im
Wesentlichen einer nationalen Identitätspolitik im Herrschaftsraum Zentraleuropa
geschuldet war, und im Folgenden klar von der gelebten Mehrsprachigkeit sowie
von den individuell wahrgenommenen kulturellen Differenzen in demselben Er-
fahrungsraum unterschieden wird.
Zur Beschreibung dieser komplexen Konstellation kann ein neuer Begriff ver-
wendet werden, der im Unterschied zur Multikulturalität das große Maß an Ähn-
lichkeiten nicht in Abrede stellt. Der Begriff der Plurikulturalität, wie ihn der in-
dische Kulturforscher Anil Bhatti definiert, blendet weder die Wahrnehmung kul-
tureller Differenzen aus, die Individuen und Gruppen eigen ist, noch misst er sie
am Maßstab politischer Leitvorstellungen. Plurikulturalität betont vielmehr die
„relationalen Verhältnisse innerhalb der Diversität“,21 für welche die alltägliche
Sprachpraxis - sei es in Habsburg Zentraleuropa oder im neuen Europa der kul-
turellen Vielfalt und Diversität - konstitutiv war und ist. Aus plurikultureller Per-
spektive wird der Blick für Handlungszusammenhänge geschärft und weniger auf
jene Bilder und Vorstellungen gelenkt, die man sich voneinander macht und hat.
Sichtbar werden dabei Austauschbeziehungen, Aneignungen und Ähnlichkeiten,
aber auch kulturelle Differenzen, die konstatiert, aber unter nicht nationalisti-
schem Vorzeichen nicht mit Wertungen versehen werden. Von diesem Zusam-
20 Anil Bhatti, „Plurikulturalität“, in: Feichtinger/Uhl (Hg.), Habsburg neu denken,
S. 171-180, hier S. 173; Feichtinger/Cohen, Understanding Multiculturalism.
21 Bhatti, „Plurikulturalität“, S. 171-180; ders., „Kulturelle Vielfalt und Homogenisie-
rung“, in: Johannes Feichtinger, Ursula Prutsch, Moritz Csáky (Hg.), Habsburg Post-
colonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis, Wien 2003, S. 55-68, hier S. 58.
Bildspuren – Sprachspuren
Postkarten als Quellen zur Mehrsprachigkeit in der späten Habsburger Monarchie
- Title
- Bildspuren – Sprachspuren
- Subtitle
- Postkarten als Quellen zur Mehrsprachigkeit in der späten Habsburger Monarchie
- Authors
- Karin Almasy
- Heinrich Pfandl
- Editor
- Eva Tropper
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-4998-1
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 346
- Keywords
- Postkarte, Mehrsprachigkeit, Habsburger Monarchie, Alltagsgeschichte, Kurznachrichtenträger, Alltagskommunikation, Fotografie, Untersteiermark, Mikrogeschichte, Eisenbahn, Tourismus
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen