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Polyglottes Habsburg | 35
war auch für den zeitgenössischen Wiener Geographen Friedrich Umlauft ein cha-
rakteristisches Merkmal der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. So betonte
er in seinem Geographisch-statistischen Handbuch, dass sich die Vermischung
der Bevölkerung „nirgends in Europa in so augenfälliger Weise beobachten“ ließe,
„wie eben in unserem Vaterlande“, das sich ihm 1876 als „das bunteste Völkerge-
misch [… darbot], das Europa aufzuweisen hat“. Umlauft zufolge war die Misch-
bevölkerung besonders für Grenzbezirke wie Siebenbürgen, für das Karst-Gebiet
und die oberungarische Tiefebene sowie für Städte wie Wien und Czernowitz cha-
rakteristisch.41
Das von Schriftstellern und Wissenschaftlern betonte Gemischtsein, die Viel-
und Mehrsprachigkeit als Grundlage für eine Näherung der Völker und die als
ineinander übergehend aufgefassten Gegensätze verweisen auf jene Alltagsprak-
tiken, die für eine plurikulturelle Gesellschaft, wie sie Habsburg Zentraleuropa
aufzuweisen hatte, konstitutiv sind. Sie bezeugen die „relationalen Verhältnisse“,
die trotz der Unterschiede bestimmend blieben.42
DER VERLUST VON MEHRSPRACHIGKEIT
UND „POLYGLOTTER NATIONALISMUS“:
URSACHEN UND WIRKUNGEN
Ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhundert rückte die Vorstellung von kulturellen
Differenzen zwischen den Nationalitäten zunehmend in den Vordergrund. Ob-
wohl im Alltag weiterhin gepflegt,43 verlor Mehrsprachigkeit in Österreich ihre
politische Wichtigkeit. In Ungarn wurde sie von einem „polyglotten Nationalis-
mus“ abgelöst.44 Ursache war die nationalistische Auslegungspraxis der liberalen
Grundgesetze: in Österreich des Artikels 19 des „Staatsgrundgesetzes vom 21.
41 Friedrich Umlauft, Die Oesterreichisch-Ungarische Monarchie. Geographisch-statis-
tisches Handbuch mit besonderer Rücksicht auf politische und Cultur-Geschichte für
Leser aller Stände, Wien/Pest 1876, S. 2.
42 Bhatti, „Plurikulturalität“, S. 173f.
43 Vgl. Oto Luthar, „The Slice of Desire. Intercultural practices versus national loyalties
in the peripheral multiethnic society of Central Europe at the beginning of twentieth
century“, in: Feichtinger/Cohen (Hg.), Understanding Multiculturalism, S. 161-173;
Almasy/Tropper, Štajer-mark. Der gemeinsamen Geschichte auf der Spur.
44 Susan Gal, „Polyglot Nationalism. Alternative perspectives on language in 19th century
Hungary“, in: Langage et société 136 (2011), S. 31-53.
Bildspuren – Sprachspuren
Postkarten als Quellen zur Mehrsprachigkeit in der späten Habsburger Monarchie
- Title
- Bildspuren – Sprachspuren
- Subtitle
- Postkarten als Quellen zur Mehrsprachigkeit in der späten Habsburger Monarchie
- Authors
- Karin Almasy
- Heinrich Pfandl
- Editor
- Eva Tropper
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-4998-1
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 346
- Keywords
- Postkarte, Mehrsprachigkeit, Habsburger Monarchie, Alltagsgeschichte, Kurznachrichtenträger, Alltagskommunikation, Fotografie, Untersteiermark, Mikrogeschichte, Eisenbahn, Tourismus
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen