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38 | Johannes Feichtinger
in unserem Heimatland mehr darstellen wird.“53 Kurz gesagt war die Erhebung
der Zweitsprache im transleithanischen Zensus mit dem Ziel verknüpft, die Zu-
nahme der Zahl der magyarisch Sprechenden zu dokumentieren. Die Kenntnis we-
niger Wörter genügte,54 um Magyarisch als Zweitsprache zu zählen. So ergab sich
die paradoxe Situation, dass in Ungarn wegen der Magyarisierung die Zweispra-
chigkeit zunahm. Susan Gal bezeichnet diese Art der Zweisprachigkeit als „Poly-
glot Nationalism“.55 In Ungarn sprachen laut Volkszählung von 1880 82% und
1910 noch 75% der Bevölkerung nur die Muttersprache.56 Gleichzeitig verdop-
pelte sich die Zahl der Nichtmagyaren, die Ungarisch sprachen, von 11,1% auf
22,4%.57 In Ungarn war somit knapp ein Drittel der Bevölkerung zumindest auf
dem Papier mehrsprachig.
Zwar leuchtet es ein, dass durch die Magyarisierung die Zahl der Zwei- und
Mehrsprachigen notwendig anstieg (naturgemäß weniger in dominant magyari-
schen Räumen), dass ihre Zunahme aber dokumentiert wurde, erscheint im Rück-
blick paradox. Mehrsprachigkeit war hier einzig und allein das Ergebnis der zu-
nehmenden Verbreitung der Staatssprache.58 Auch in Ungarn war der Bilingualis-
mus als subversives Element gefürchtet, in der besonderen Logik der Magyarisie-
rung aber als notwendiges Übel akzeptiert.
In Österreich beinhaltete der Artikel 19 des Staatsgrundgesetzes über die all-
gemeinen Rechte der Staatsbürger das so genannte „Sprachenzwangverbot“, das
den Staatsbürgern zugestand, die „zweite Landessprache“ (wie z.B. in Böhmen
und Mähren) nicht erlernen zu müssen. In der Folge verringerte sich die Zahl zwei-
sprachiger Volks- und Bürgerschulen rasant, von 9% (in den Jahren 1870/71) auf
1% (1912/13). Besonders signifikant war der Verlust der Mehrsprachigkeit im
Schulwesen in der Bukowina. Während im Schuljahr 1869/70 der Anteil der ge-
mischtsprachigen Volksschulen noch 81,2% betrug, waren es 1913/14 nur noch
12,2%.59 Dieser rapide Rückgang mehrsprachiger Ausbildung in Österreich wurde
53 Károly Keleti, „Magyarország nemzetiségei a 1880-ki népszámlálás alapján“, in: MTA
Értesitöje 7 (1882), S. 3-29, hier S. 10 (übersetzt aus: Gal, „Polyglot Nationalism“,
S. 42)
54 Vgl. Varga, „Multilingualism in urban Hungary“, S. 968.
55 Gal, „Polyglot Nationalism“.
56 Vgl. Varga, „Multilingualism in urban Hungary“, S. 966.
57 Vgl. Puttkamer, „Mehrsprachigkeit und Sprachenzwang in Oberungarn und Siebenbür-
gern 1867–1914“, S. 15.
58 Vgl. ebd., S. 19.
59 Vgl. Burger, „Die Vertreibung der Mehrsprachigkeit am Beispiel Österreichs 1867–
1918“, S. 42.
Bildspuren – Sprachspuren
Postkarten als Quellen zur Mehrsprachigkeit in der späten Habsburger Monarchie
- Title
- Bildspuren – Sprachspuren
- Subtitle
- Postkarten als Quellen zur Mehrsprachigkeit in der späten Habsburger Monarchie
- Authors
- Karin Almasy
- Heinrich Pfandl
- Editor
- Eva Tropper
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-4998-1
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 346
- Keywords
- Postkarte, Mehrsprachigkeit, Habsburger Monarchie, Alltagsgeschichte, Kurznachrichtenträger, Alltagskommunikation, Fotografie, Untersteiermark, Mikrogeschichte, Eisenbahn, Tourismus
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen