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42 | Johannes Feichtinger
HABSBURG NEU DENKEN
In den jüngsten Habsburg-Forschungen wird das Denken in Unterschieden zuneh-
mend auf den Prüfstand gestellt und neu bewertet. Der Blick richtet sich neuer-
dings auf Lebensweisen und Handlungsformen, die weniger von der behaupteten
nationalen Differenz als von einer „national flexibility (or indifference)“66 gegen-
über ethnisch-nationalen Kategorisierungen sowie von Interaktionen, Verschrän-
kungen und Überlappungen bestimmt waren. Pieter M. Judson demonstriert in sei-
ner neuen Habsburg-Geschichte, „dass eine Annäherung an die Geschichte des
Habsburgerreiches aus der Perspektive gemeinsamer Institutionen, Praktiken und
Kulturen die herkömmlichen Darstellungen fragwürdig werden lässt, die die un-
terschiedlichen Völker und ihre Differenzen in den Vordergrund rücken.“ Er
spricht von der „Miterschaffung des Reiches durch die Bürger“.67
Dieser integrative Zugang verdankt sich nicht zuletzt dem langsamen Ab-
schied von den differenzgenerierenden Epistemologien des 20. Jahrhunderts in
den Kulturwissenschaften. In der Gegenwartsgesellschaft sind Analysekategorien,
die auf binären Denkfiguren wie „eigen“ und „fremd“, Gleichheit und Differenz,
Zentrum und Peripherie, Identität und Alterität beruhen, fragwürdig geworden.
Zunehmend wird erkannt, dass Zugänge dieser Art einer statischen, dekomplexi-
fizierten und reduktionistischen Weltsicht Vorschub leisten, die im Schlagwort
von „Wir und die Anderen“ Ausdruck findet. So werden auch diskursive Reprä-
sentationen der Anderen heute kritisch hinterfragt und als bedeutungsgenerierende
Praktiken zunehmend auf ihre Erzeugungsverhältnisse überprüft, historisiert und
kontextualisiert.
Ausgehend von neuen, dynamisch-reziproken Ansätzen in der Geschichtswis-
senschaft (wie z.B. circulation, relational histories, connected und integrated his-
tories) wurden zuletzt zwei neue Zugänge vorgestellt, die den Blick verstärkt auf
Interaktionen richten und dabei auch die Sprachenfrage neu bewerten, nicht nur
als nationsgenerierenden, sondern auch als sozial und kulturell integrierenden
Faktor. Moritz Csáky nimmt mit seinen Konzepten von „Zentraleuropa als Kom-
munikationsraum“68 und „Zentraleuropa als relationaler Raum“69 eine Region in
den Blick, in der sich Kultur als Ergebnis von „sich konkurrenzierenden und über-
66 Judson, Guardians of the Nation, S. 5.
67 Peter M. Judson, Habsburg. Geschichte eines Imperiums 1740–1918, München 2017,
S. 17; ders., The Habsburg Empire. A New History, Cambridge, Mass. 2016.
68 Csáky, Das Gedächtnis Zentraleuropas, S. 100f.
69 Ebd., S. 31-33.
Bildspuren – Sprachspuren
Postkarten als Quellen zur Mehrsprachigkeit in der späten Habsburger Monarchie
- Title
- Bildspuren – Sprachspuren
- Subtitle
- Postkarten als Quellen zur Mehrsprachigkeit in der späten Habsburger Monarchie
- Authors
- Karin Almasy
- Heinrich Pfandl
- Editor
- Eva Tropper
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-4998-1
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 346
- Keywords
- Postkarte, Mehrsprachigkeit, Habsburger Monarchie, Alltagsgeschichte, Kurznachrichtenträger, Alltagskommunikation, Fotografie, Untersteiermark, Mikrogeschichte, Eisenbahn, Tourismus
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen