Page - 252 - in Bildspuren – Sprachspuren - Postkarten als Quellen zur Mehrsprachigkeit in der späten Habsburger Monarchie
Image of the Page - 252 -
Text of the Page - 252 -
252 | Jerneja Ferlež
Kulissen einer Aufführung. In Fällen solcher Gruppenporträts hat natürlich eine
Absprache mit dem Fotografen stattgefunden.
Es gibt aber natürlich auch Postkarten, auf denen ersichtlich ist, dass die Men-
schen den Fotografen gar nicht wahrgenommen haben. Sie gehen die Straße ent-
lang, sind manchmal direkt im Schritt festgehalten, schieben einen Karren, fahren
mit der Kutsche, betrachten die Auslagen, plaudern mit jemandem, fahren oder
schieben ein Fahrrad, flanieren über die Brücke oder kehren die Straße, ohne dass
sich ihr Blick auf die Person richten würde, die mit ihrer Kamera das normale
Geschehen in der Gasse stört. Wenn wir uns versuchen die Situation der Auf-
nahme vorzustellen, scheint dieses zweite Szenario eigentlich unwahrscheinlicher
als das erste zu sein, obwohl das Endprodukt für uns natürlicher wirkt. Hat der
Fotograf in diesem Szenario vielleicht die Vorbeigehenden gebeten, sich so zu
verhalten, als wäre er gar nicht hier? Was machen die auf diesen Straßenszenen
festgehaltenen Menschen eigentlich? Wo gehen sie hin? Einige von ihnen gehen,
um Einkäufe zu erledigen, zu einem Händler oder einen Markt, andere in die Ar-
beit, nach Hause, einige vielleicht ins Kaffee- oder Gasthaus. Vielleicht sind sie
unterwegs zum Bahnhof, auf die Post, ins Theater, in die Kirche, in ein Amt oder
in die Schule. Einige sind Einheimische, andere könnten Besucher sein, die für
eine Erledigung in die Stadt gekommen sind. Einige sind auf den Fotoaufnahmen
bei ihrer Arbeit festgehalten worden, z. B. beim Fahren einer Kutsche, dem Fegen
des Bodens, dem Schieben eines Karrens, dem Waschen der Wäsche im Fluss;
andere wiederum in der unmittelbaren Nähe ihres Wohn- oder Arbeitsortes. Einige
schauten im Moment der Aufnahme bloß durchs Fenster oder traten in den Ein-
gang ihres Lokals oder Hauses. Wiederum andere wurden bei einer angenehmen
Tätigkeit abgelichtet, z. B. in einem Gastgarten oder während einer Bootsfahrt auf
dem Teich. Einige warten am Bahnsteig auf den Zug. Einige stellten sich vor das
Lokal, in dem sie arbeiteten, so dass die jeweilige Postkarte wie eine Werbung für
das jeweilige Gewerbe, Geschäft, Lokal oder Unternehmen aussieht.
Es stellt sich auch die Frage, ob diese Menschen, die auf die eine oder andere
Weise ihren Weg auf eine Postkarte fanden, später das Resultat zu sehen bekamen.
Sahen sie sich selbst auf einer Aufnahme, die verkauft, in andere Orte verschickt
oder in ein Sammelalbum eingeordnet wurde? Kauften sie diese Karte selbst als
Erinnerung? 21 Erkannten sie sich auf der Aufnahme? Suchten sich einige sogar
21 Es ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass sich ausgehend von Fällen,
in denen Menschen sich als Motiv auf einer Postkarte erkannten, folgenreiche juristi-
sche und im heutigen Sinn datenschutzrechtliche Debatten entwickeln konnten. Vgl.
den Hinweis auf entsprechende Gerichtsverfahren, in denen das ‚Recht aufs eigene
Bild‘ im Zusammenhang mit ungewollter Vervielfältigung des eigenen Konterfeis auf
Bildspuren – Sprachspuren
Postkarten als Quellen zur Mehrsprachigkeit in der späten Habsburger Monarchie
- Title
- Bildspuren – Sprachspuren
- Subtitle
- Postkarten als Quellen zur Mehrsprachigkeit in der späten Habsburger Monarchie
- Authors
- Karin Almasy
- Heinrich Pfandl
- Editor
- Eva Tropper
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-4998-1
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 346
- Keywords
- Postkarte, Mehrsprachigkeit, Habsburger Monarchie, Alltagsgeschichte, Kurznachrichtenträger, Alltagskommunikation, Fotografie, Untersteiermark, Mikrogeschichte, Eisenbahn, Tourismus
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen