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266 | Jerneja Ferlež
nauen Flussverlauf sowie den Wasserstand der Drau. Man sieht eine Reihe diver-
ser Verkehrsmittel: Kutschen, Wagen, Fahrräder, Karren, Züge und im Ausnah-
mefall hie und da einmal ein Automobil, eine wahre Sensation. All das kann man
aus Postkarten mit großer Gewissheit herauslesen.
Wir kennen aber natürlich nicht den Kontext. Wir wissen etwa nicht, ob das,
was wir da sehen, alltäglich oder außergewöhnlich war. Viel kann man auch aus
dem herauslesen, was die Sender schrieben. Wer wem schreibt, woher und wohin
und in welcher Sprache. Wie sich in einem mehrsprachigen Umfeld zwei oder
mehr Sprachen aneinanderdrängen, und welche davon Sender und Adressat für
die schnelle zwischenmenschliche Postkartenkommunikation ausgewählt haben
und warum. Aus dem Geschriebenen bekommen wir Anhaltspunkte, die dabei hel-
fen, den Entstehungskontext zu rekonstruieren: Grüße, Schelmisches oder Liebes-
botschaften, Informationen darüber, was sich ereignet hat, Fragen nach Gesund-
heit, dem werten Befinden und anderen Umständen jener, die aus diesem oder
jenem Grund während des Verfassens dieser Postkarte an verschiedenen Orten, in
verschiedenen Ländern der Monarchie oder der Welt lebten. Einige Fragmente
sind zwar verständlich, aber vieles bleibt ohne weiteren Kontext im Unklaren.
Postkarten sind eine relevante Bildquelle, um die Vergangenheit zu erfor-
schen. Dennoch muss wie bei allen Quellenarten, auch hier strenge Quellenkritik
geübt werden. Sie muss mit anderen Quellenarten verglichen und die Möglichkeit
in Betracht gezogen werden, dass das, was wir sehen, eine Ausnahme und keine
alltägliche Erscheinung darstellte. Elizabeth Edwards beschrieb in der Einleitung
zu Raw Histories den Umstand, dass jede Fotografie nur einen aus der Zeit her-
ausgerissenen Moment festhält und sich als ein solches Fragment daher diachro-
nen Verbindungen entzieht, da sie vom Strom des Lebens, aus dem sie herausge-
rissen wurde, ausgenommen ist.33 Eine Fotografie zeigt also etwas, das allgemein
sein soll, aber dennoch nur ein Fragment ist. Eine Fotografie – und zu Beginn ihrer
Entstehung auch eine Postkarte – ist immer kulturell bedingt, denn sie entsteht aus
der Überzeugung, was wichtig oder charakteristisch für eine bestimmte Zeit ist.
Deshalb muss sie, so wie jede andere Quellengattung auch, einer entsprechenden
Quellenkritik unterzogen werden. Wenn wir sie nach hundert Jahren interpretie-
ren, sind wir eigentlich nicht nur zeitlich vom Geschehen schon sehr weit entfernt.
Edwards deutet zudem auf den Unterschied zwischen privater und öffentlicher
Funktion von Bildern hin. Wenn sie im privaten Kontext noch mit Erinnerungen
verknüpft werden, wie im Falle erhaltener Familienfotografien, entbehren sie in
ihrer öffentlichen Funktion dieser bedeutungsstiftenden Kontexte. Ihre Bedeutung
33 Elizabeth Edwards, „Introduction: Observations from the Coal-Face“, in: dieselbe, Raw
Histories, Oxford, New York, 2001, S. 1-23, hier S. 8f.
Bildspuren – Sprachspuren
Postkarten als Quellen zur Mehrsprachigkeit in der späten Habsburger Monarchie
- Title
- Bildspuren – Sprachspuren
- Subtitle
- Postkarten als Quellen zur Mehrsprachigkeit in der späten Habsburger Monarchie
- Authors
- Karin Almasy
- Heinrich Pfandl
- Editor
- Eva Tropper
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-4998-1
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 346
- Keywords
- Postkarte, Mehrsprachigkeit, Habsburger Monarchie, Alltagsgeschichte, Kurznachrichtenträger, Alltagskommunikation, Fotografie, Untersteiermark, Mikrogeschichte, Eisenbahn, Tourismus
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen