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298 | Rudolf Jaworski
zuletzt auf die größere Anlehnungs- und Schutzbedürftigkeit der kleinen tschechi-
schen Nation zurückführen lässt.
Spätestens in den Kämpfen an der Ostfront wurde den Soldaten bald klar, dass
Russen und Serben genauso zur slawischen Sprachfamilie gehörten wie die Polen
im Deutschen Reich oder die Tschechen und Austropolen innerhalb der Habsbur-
ger Monarchie. Teilweise sahen sich tschechische wie polnische Soldaten sogar
gezwungen, gegen ihre eigenen Landsleute zu kämpfen, nur, weil diese die Uni-
form des Feindes trugen. Der pauschal formulierte Gegensatz ‚deutsch‘ oder ‚sla-
wisch‘ machte unter diesen Voraussetzungen für die Polen dies- und jenseits der
russischen Grenze wie für Tschechen im Habsburgerreich wenig Sinn und stellte
sie vor die grundsätzliche Frage, für wen und gegen wen sie überhaupt Krieg füh-
ren sollten. Doch auch für die kriegsführenden Mächte war die Unterscheidung
zwischen ‚deutsch‘ und ‚slawisch‘ keineswegs ohne Tücken: Denn in letzter Kon-
sequenz musste eine solche Antithese gerade für die multinational zusammenge-
setzten Imperien Russland und Österreich-Ungarn auf einen gefährlichen Appell
an nichtstaatliche und antidynastische Solidaritätsgefühle hinauslaufen.
Selbst für das Deutsche Reich war eine solchermaßen konstruierte Antithese
in Anbetracht polnischer Soldaten in deutscher Uniform eigentlich unangebracht.
Dennoch glaubte man im Wilhelminischen Deutschland – anders als in Öster-
reich-Ungarn –, auf die sprachlich-ethnische Eigenständigkeit der polnischen
Teilbevölkerung keine Rücksicht nehmen zu müssen. Ein solches Vorgehen war
im habsburgischen Vielvölkerreich viel weniger möglich.7
Dieser fundamentale Unterschied war bereits in den ersten Stellungnahmen
beider Monarchen zu Kriegsbeginn deutlich geworden: Während Kaiser Franz Jo-
sef I. am 28. Juli ein Manifest „An meine Völker“ erlassen hatte, das auch in den
meisten Monarchiesprachen publiziert wurde (poln.: Do moich ludów; tschech.:
Mým národům), hatte Wilhelm II. am 4. August 1914 verkündet: „Ich kenne keine
Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“. In diesem Geiste erschienen in
Deutschland Kriegspostkarten, die unumwunden und apodiktisch mit Aufschrif-
ten wie: „Ich bin Deutscher“, „Deutsche seid deutsch!“, „Deutsch sein heißt treu
sein“ versehen waren, was letztendlich einer Verleugnung oder Subsummierung
des polnischen Bevölkerungselements gleichkam. Stellvertretend sei hierzu eine
7 So konterte die österreichische Kriegspropaganda im Streit mit Russland um Galizien
die slawisch begründeten Ansprüche der Gegenseite nicht mit ethnopolitischen Parolen,
sondern mit dem Gegensatz von „asiatischer“ und „europäischer Zivilisation“. Siehe
dazu Elisabeth Haid, Im Blickfeld zweier Imperien. Galizien in der österreichischen und
russischen Presseberichtserstattung des Ersten Weltkriegs 1914–1918, Phil. Diss.
Wien 2016, S. 152-162.
Bildspuren – Sprachspuren
Postkarten als Quellen zur Mehrsprachigkeit in der späten Habsburger Monarchie
- Title
- Bildspuren – Sprachspuren
- Subtitle
- Postkarten als Quellen zur Mehrsprachigkeit in der späten Habsburger Monarchie
- Authors
- Karin Almasy
- Heinrich Pfandl
- Editor
- Eva Tropper
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-4998-1
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 346
- Keywords
- Postkarte, Mehrsprachigkeit, Habsburger Monarchie, Alltagsgeschichte, Kurznachrichtenträger, Alltagskommunikation, Fotografie, Untersteiermark, Mikrogeschichte, Eisenbahn, Tourismus
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen