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Deutsch oder slawisch? | 309
Der Kriegsalltag war sowohl an der Front wie im Hinterland indes von hauptsäch-
lich nackten Existenzsorgen und Überlebensstrategien geprägt und dürfte wohl
weniger von ethnisch kodierten Sympathiekundgebungen oder Abwehrhaltungen
bestimmt gewesen sein. So war für die überwiegende Mehrheit der tschechisch-
sprachigen Bevölkerung in den böhmischen Ländern während des gesamten
Kriegsverlaufs eine ausgesprochen abwartend passive Haltung kennzeichnend,
also eine Einstellung, die man auch als Loyalität auf Abruf bezeichnen könnte.15
Ebenso schien es für die polnische Bevölkerung in den drei Teilungsgebieten
ratsam, unter der militärisch gestrafften Herrschaft der Mittelmächte und bis zur
russischen Revolution von 1917 auch innerhalb des Zarenreiches möglichst nicht
durch irgendwelche Provokationen aufzufallen, zumal der ständig wechselnde
Frontverlauf im Osten wenig Anreize für ein solches Verhalten bot.16
Ethnopolitische Zurückhaltung aus wohl verstandenem Eigeninteresse heraus
zeichnete insbesondere die Haltung austropolnischer Wortführer aus, die ihre ei-
genen Kriegsziele zunächst sogar mit Hilfe der ‚deutsch geführten‘ Habsburger
Monarchie und nicht gegen sie zu realisieren hofften.
Derartige Konstellationen und Dispositionen relativierten und konterkarierten
den plakativ propagierten deutsch-slawischen Gegensatz, und das musste sich
zwangsläufig auch auf die sprachliche und inhaltliche Gestaltung polnischer wie
tschechischer Kriegspostkarten vor allem innerhalb der Habsburger Monarchie
auswirken. Hier bedeutete die Unterscheidung zwischen ‚deutsch‘ und ‚slawisch‘
auf Kriegspostkarten mitunter nicht viel mehr als die Wahl verschiedensprachiger
Bildunterschriften. Das betraf sowohl religiöse Themen, Trauer- sowie Glück-
wunschkarten und erst recht die damals sehr beliebten ‚Herz-Schmerz-Motive‘
mit ihren rührseligen Abschieds- und Wiedersehens-Szenen.17
Aus dem reichhaltigen Repertoire der zuletzt genannten Kategorie sei hier eine
auf den 14. 4. 1915 datierte Karte wiedergegeben, welche eine junge tschechische
Bäuerin zeigt, die den an die Front ziehenden Soldaten noch ein letztes Mal mit
einem weißen Tuch zuwinkt und ihnen „Na shledanou!“ (Auf Wiedersehen!)
15 Siehe dazu: Ivan Šedivý, „České lojalní projevy 1914–1918“, Český Časopis Historický
97 (1999), Nr. 2, S. 293-310.
16 Vgl. dazu und zum Folgenden u.a. Dorota Litwin-Lewandowska, O polska rację stanu
w Austrii. Polacy w życiu politycznym Austrii w okresie monarchii dualistycznej (1867–
1918), Lublin 2008, S. 430-454; Mieczysław Wojciechowski (Hg.), Społeczeństwo
polskie na ziemiach pod panowaniem pruskim w okresie I wojny światowej (1914–
1918), Toruń 1996.
17 Zur internationalen Austauschbarkeit solcher Kartenmotive vgl. Rudolf Jaworski, Müt-
ter, Liebchen, Heroinen. Propagandapostkarten aus dem Ersten Weltkrieg, Köln 2016,
S. 95-106.
Bildspuren – Sprachspuren
Postkarten als Quellen zur Mehrsprachigkeit in der späten Habsburger Monarchie
- Title
- Bildspuren – Sprachspuren
- Subtitle
- Postkarten als Quellen zur Mehrsprachigkeit in der späten Habsburger Monarchie
- Authors
- Karin Almasy
- Heinrich Pfandl
- Editor
- Eva Tropper
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-4998-1
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 346
- Keywords
- Postkarte, Mehrsprachigkeit, Habsburger Monarchie, Alltagsgeschichte, Kurznachrichtenträger, Alltagskommunikation, Fotografie, Untersteiermark, Mikrogeschichte, Eisenbahn, Tourismus
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen