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322 | Jernej Kosi
terreich-Ungarns als ‚Völkerkerker‘. Auch wenn in einem entsprechenden Inter-
pretationsrahmen die Habsburgermonarchie einem politischen Konstrukt gleich-
gesetzt wurde, das mehrere Jahrhunderte die unterjochten slawische Völker unter-
drückt haben soll, war doch der Topos des ‚Völkerkerkers‘ jüngeren Entstehungs-
datums. Er bildete sich während des Ersten Weltkriegs heraus, als ihn die britische
Kriegspropaganda zum Zwecke der Agitation und der ideologischen Unterminie-
rung des militärischen Feindes kreierte und verbreitete. Im zentraleuropäischen
Raum hat sich die Vorstellung vom österreichisch-ungarischen Völkerkerker erst
im Herbst und Winter 1918 verbreitet, also in den Wochen und Monaten nach dem
Ende der Kampfhandlungen und mit dem Zerfall des imperialen administrativen
und politischen Systems.7
Die Angehörigen der politischen und kulturellen Eliten, die noch wenige Mo-
naten zuvor anstandslos und ohne Bedenken als kaisertreue Diener und dienstbe-
flissene Beamte gelebt hatten, begannen nun, gestützt auf diese Art von nationa-
listischer Rhetorik, ihre Lage in einem neuen, völlig anderen postimperialen Sys-
tem, welches von der Idee der Nation und des Selbstbestimmungsrechts der Völ-
ker getragen wurde, zu überdenken. Dank der Metaphorik des ‚Völkerkerkers‘,
welche die Machthaber der Nachfolgestaaten mehr oder weniger planvoll unter
ihrer Bevölkerung verbreiteten, verwandelte sich Österreich-Ungarn quasi über
Nacht von einer Heimat, der die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung bis zum
Schluss treu geblieben war, in ein autokratisches und unnatürliches Staatsgebilde,
in dem die Deutschen und Ungarn die übrigen Volksgruppen unterdrückt, ihnen
das Recht auf kulturelle Selbstständigkeit genommen, vor allem aber das Aufblü-
hen und die Festigung ihrer Nationalsprachen verhindert hätten. Diese postimpe-
riale Rhetorik legitimierte die neue politische Praxis auch im Gebiet der ehemali-
gen historischen habsburgischen Länder, die ab Herbst 1918 von der Nationalen
Regierung in Ljubljana kontrolliert wurden. Auch hier waren die Deutschen nicht
mehr willkommen, und auch die deutsche Sprache geriet in Misskredit. Jetzt, wo
endlich die Freiheit ausgebrochen sei, müsse man dafür konsequent mit den Deut-
schen abrechnen, und ebenso mit der deutschen Sprache, dem grundlegenden At-
tribut der vermeintlichen deutschen Unterdrückungspolitik. Für das Deutsche war
nun in der Verwaltung, insbesondere auch in der Schule, kein Platz mehr.
Die Rhetorik der sprachlichen Exklusivität, mit der die lokalen Schulfunktio-
näre aus Šmarje pri Jelšah im Februar 1919 ihre Ablehnung gegen den Deutsch-
unterricht begründeten, war aber nicht nur der Ausdruck eines neuen Blickes auf
die Doppelmonarchie als Völkerkerker. Im Gegenteil, sie war auch ein Erbe des
7 Über die Zwischenkriegspropaganda und den ‚Völkerkerker’ vgl. John Deak, „The
Great War and the Forgotten Realm: The Habsburg Monarchy and the First World
War“, The Journal of Modern History 86, Nr. 2 (Juni 2014), S. 336-80.
Bildspuren – Sprachspuren
Postkarten als Quellen zur Mehrsprachigkeit in der späten Habsburger Monarchie
- Title
- Bildspuren – Sprachspuren
- Subtitle
- Postkarten als Quellen zur Mehrsprachigkeit in der späten Habsburger Monarchie
- Authors
- Karin Almasy
- Heinrich Pfandl
- Editor
- Eva Tropper
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-4998-1
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 346
- Keywords
- Postkarte, Mehrsprachigkeit, Habsburger Monarchie, Alltagsgeschichte, Kurznachrichtenträger, Alltagskommunikation, Fotografie, Untersteiermark, Mikrogeschichte, Eisenbahn, Tourismus
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen