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paul Binski
gelangen. Es geht darum, die Kunstobjekte so weit wie möglich dem Bereich der
psychischen Erfahrung des Einzelnen zu entheben, auf die die bisherige Forschung
in der Regel fokussiert. Im Anschluss sollen mit der Untersuchung von (III) figurae,
(IV) Affekt und Artifizialität sowie (V) Affekt und „Realismus“ einige grundlegen-
de Auffassungen der kunsthistorischen Affektforschung in Frage gestellt werden,
die meines Erachtens bei der Beurteilung von Emotionen und ihrer Darstellung
von im Wesentlichen naturalistischen Annahmen ausgehen. Stattdessen möchte
ich den Blick auf das Artifizielle, das Gemachte lenken, das mir in diesem Zusam-
menhang interessanter erscheint.
Kein Kunstwerk ist völlig losgelöst von den Bedürfnissen und der Beteiligung
seines Publikums, und Emotionen sind untrennbare Bestandteile der Kunsterfah-
rung. Wichtig ist, dass wir verstehen, in welcher Weise die Betrachter involviert
sind, ohne romantische oder nachromantische Ansichten ins Mittelalter zu pro-
jizieren. Mein Ausgangspunkt sind deshalb die Äußerungen zur Verbindung von
Gemütsbewegung (Emotion, Affekt) und Vernunft (Intellekt), zur Suche nach in-
tellektueller und emotionaler Balance, die wir von Aristoteles über die antiken Rhe-
toriker bis hin zu mittelalterlichen Stellungnahmen zur Kunsterfahrung verfolgen
können.3
Obwohl ich von Skulpturen ausgehe, die auf den mittelalterlichen Betrachter
sicher eine besondere Wirkung ausübten – vor allem, da sie moralitas verkörpern
konnten –, sind die folgenden Beobachtungen als Verständnishilfe für die bilden-
den Künste im Allgemeinen gedacht.
Occasio
Zunächst einmal ist es trotz einer gewissen Gefahr der Pauschalisierung nicht falsch,
die gotische Kunst zwischen 1150 und 1300 als eine Geschichte der Vereinheitli-
chung zu sehen. Große Skulpturenportale wurden einander, wie die Kirchen selbst,
allmählich immer ähnlicher, als richte sich ihre Gestaltung nach einer Art gemein-
samer Währung, sozusagen einem in fast ganz Nordwesteuropa gültigen Schön-
heitskanon. Der Begriff der lingua franca, der gemeinsamen Sprache, ist in diesem
Zusammenhang passend – ein angesagter „look“, nachweislich von französischer
Herkunft und französischem Charakter. Sei es in Kastilien, der Île-de-France, der
Champagne, in Burgund oder im Elsass, sei es jenseits des Rheins bis nach Thürin-
gen oder weit im Norden in Trondheim: Gegen 1300 kommt es in den bildenden
3 Zwei wichtige Studien zur Rhetorik sind der grundlegende Beitrag von Mary Carrut-
hers: The Experience of Beauty in the Middle Ages. Oxford 2013, und Rocío Sánchez
Ameijeiras: Los rostros de las palabras. Imágenes y teoria literaria en el Occidente me-
dieval. Madrid 2014, letztere mit besonderem Schwerpunkt auf der iberischen Skulptur
der Gotik. – Mein Versuch einer rhetorischen Analyse einiger Aspekte in der gotischen
Kunst in: Paul Binski: Gothic Wonder: Art, Artifice and the Decorated Style, 1290–1350.
New Haven / London 2014; ders.: Gothic Sculpture (wie Anm. 1). – Klaus Niehr: Spra-
che des Körpers – Sprache des Gefühls. Grundlagen von Emotion und Affekt in den
Arbeiten der Naumburger Werkstatt. In: Hartmut Krohm / Holger Kunde (Hg.): Der
Naumburger Meister: Bildhauer und Architekt im Europa der Kathedralen. 3 Bde., Pe-
tersberg 2012, hier Bd. 3, S. 154–167.
Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Title
- Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Author
- Christine Beier
- Editor
- Michaela Schuller-Juckes
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21193-8
- Size
- 18.5 x 27.8 cm
- Pages
- 290
- Categories
- Geschichte Chroniken