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paul Binski
Farbe und Ornament erlebt wird, so kommt es auch hier zu einem ehrfürchtigen
Innehalten, einem unwillkürlichen Staunen, zur admiratio. Darauf folgt Wissbe-
gier, und diese führt zu Aufmerksamkeit und zur Bereitschaft, das Wahrgenomme-
ne aufzunehmen, sich zu eigen zu machen.14
Locus communis und „Überzeugungsziel“
Meine Sprache stützt sich bewusst auf ein sozial ausgerichtetes Modell rhetorischen
Zuschnitts, denn, in den Worten von Mary Carruthers, „An artifact that speaks is also
an orator“.15 Vor diesem Hintergrund ist der Charakter großer Portale zunächst als
öffentliches Monument zu beschreiben und nicht als occasio für nach innen gerichte-
te psychische Reaktionen (Abb. 2). Fassaden wie die von Ripoll können unerbittlich
und ornamentprunkend vor uns stehen wie ein römischer Torbogen, sie können, wie
in Lincoln, die grandiosen Dimensionen römischer Triumphbögen nachahmen, und
diese riesigen rätselhaften Komplexe können, wie in Wells, dem Ziel institutioneller
Selbstbestätigung dienen.16 Die Tatsache, dass diese Fassaden, etwa in Wells (Abb. 3),
dicht bevölkert sind, erinnert uns auch an die wichtige christliche Tradition, die
Kirche als Ganze einer himmlischen Stadt gleichzusetzen, wie dies Augustinus und
Beatus von Liébana getan haben. Bei solchen Visionen geht es nicht einfach darum,
ihre physische Präsenz einer Stadt anzunähern: Ihr ganzes Bildrepertoire ist sozial
aufgefasst. Was ist die psychische Verfassung oder die Stimmung des Einzelnen im
Vergleich zur ecclesia militans, ecclesia triumphans oder ecclesia celestis?
Das öffentliche Erleben der Liturgie ist hier wesentlich, da, wie Éric Palazzo
vorgeschlagen hat, grundlegende Vorstellungen wie die Eucharistie sinnlich vermit-
telt wurden, als „sacramental effect“, wie er es nennt – eine Art allgemeingültiger
Beweis, der auf gemeinsamem menschlichen Erleben basiert.17 Aus diesem Grund
befassen sich rhetorische Überlegungen zur inventio und convictio mit dem Kon-
zept eines locus communis oder „Allgemeinplatzes“. War mit der occasio bereits eine
günstige Situation geschaffen, so half nun die Idee eines locus communis dabei, ver-
mittels allgemein Akzeptierten einer Überzeugung Nachdruck zu verleihen. Dieses
Konzept des Generellen ist grundlegend und nicht zufällig eine im Wesentlichen
soziale Größe. Als Beispiel hierfür verweise ich auf die Kapazität der Farbe Rot, bei
bestimmten Gelegenheiten Aufmerksamkeit zu verlangen und Gefahr oder Autori-
tät zu signalisieren, etwa in den zahlreichen Fällen „roter Türen“ von Kathedralen,
die Orte gerichtlicher Prozesse anzeigen, mit denen diese Portale assoziiert wer-
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14 Caroline W. Bynum: Wonder. In: Metamorphosis and Identity. New York 2001, S. 37–75.
15 „An artifact that speaks is also an orator“, Carruthers, The Craft of Thought (wie
Anm. 12), S. 222.
16 Anthony Quiney: In Hoc Signo: The West Front of Lincoln Cathedral. In: Architectural
History 44 (2001), S. 162–171; Paul Binski: Becket’s Crown: Art and Imagination in Go-
thic England, 1170–1300. New Haven / London 2004, S. 103–121; Carolyn M. Malone:
Façade as Spectacle: Ritual and Ideology at Wells Cathedral. Boston (MA) 2004.
17 Éric Palazzo: L’invention chrétienne des cinq sens dans la liturgie et l’art au Moyen Âge.
Paris 2014.
18 Barbara Deimling: Ad Rufam Ianuam. Die rechtsgeschichtliche Bedeutung von „roten
Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Title
- Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Author
- Christine Beier
- Editor
- Michaela Schuller-Juckes
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21193-8
- Size
- 18.5 x 27.8 cm
- Pages
- 290
- Categories
- Geschichte Chroniken