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paul Binski
ern, genau dann nichts Schlechtes, wenn damit etwas Gutes wie Scham, Mitleid
oder Reue bewirkt wird. Obwohl uns also Emotionen „vorgelebt“ werden und wir
sie nachvollziehen – über sie nachdenken oder sie mitempfinden wie etwa, wenn
wir darüber lesen –, werden wir nicht von ihnen getrieben.40 Was Thomas hier he-
rausarbeitet, ist das Thema der Vorsätzlichkeit: Alle Leidenschaften, die nicht rein
unwillkürlich sind, sind auf etwas gerichtet. Diese Richtung auf etwas hin nennt
man Affekt. Affekte sind eben keine Emotionen, sondern Empfindungen und Ver-
änderungen, zu denen es kommt, weil der menschliche Wille und Leidenschaften
aufeinander einwirken. Wir kommen einem Verständnis dieses Phänomens näher,
wenn wir die Vorstellung von „Haltung“ sowohl als geistige als auch als körperliche
Haltung betrachten. Affekte kann man lehren und gestalten. Wie ein Kunstwerk
kann auch menschliches Verhalten und Empfinden durch Künste oder technai ge-
formt werden.
Im Fall der Betrachter der törichten Jungfrauen kann diese Verfasstheit Mitleid
einschließen – ein von der Mildtätigkeit abgeleitetes Konzept –, oder auch eine Art
des Jubels über den Segen der Gerechtigkeit Gottes. Mit anderen Worten: Eine
mögliche Antwort auf solche Darstellungen wäre die, die törichten Jungfrauen ein-
fach als dumme kurzsichtige Mädchen aufzufassen, die bekommen, was sie verdie-
nen. Wir wissen, dass später, im Frankreich des 14. Jahrhunderts, das Missgeschick
der Synagoga im liturgischen Drama so dargestellt wurde, dass es die Versammelten
durchaus auch zu Gelächter hinreißen konnte.41 Diese Vorstellung mag heutzuta-
ge widersinnig, gleichgültig, sogar grausam wirken, aber nur dann, wenn wir von
unserem naturalistischen, grundlegend modernen Verständnis von Innerlichkeit,
Emotion, moralischem Geschick und quasidemokratischer „Leutseligkeit“ ausge-
hen. „Naturalistische“ Emotionstheorien führen uns aufs Glatteis.
Ich möchte dagegenhalten, dass figurae, gleich ob drei- oder zweidimensional,
konstruierte Hinweise oder Anleitungen sind, die gezielt Affekte hervorrufen und
unsere Absichten in eine andere Richtung lenken. Sie sind ein öffentlich verifizier-
bares Mittel, um zu betonen und hinzuweisen. Etwas, das auffällig, attraktiv oder
scheinbar menschlich ist, wird eingesetzt, um Gedankenprozesse und Empfindun-
gen auszulösen und in eine Richtung zu lenken, die von evidentia gewiesen wird.
Das Ziel ist nicht kühl kalkuliertes Auslösen von Leidenschaften oder emotionalen
Zwängen: Die Emotionen, oder besser die Affekte, sind als Prozesse zu verstehen
und nicht als Ergebnisse. Sie sind Teil der Funktionsweise eines Kunstwerks und
nicht sein Ziel. Sie richten die Neigungen der Betrachter aus, ihre Überzeugungen,
ihr Urteilsvermögen. Ein mögliches Ergebnis einer solchen Ausrichtung ist ein Sin-
neswandel: metanoia oder Reue. Und das führt zu Handlungen.
40 In diesem Zusammenhang verdanke ich viel den Erörterungen von Kendall Walton:
Mimesis as Make-Believe: On the Foundations of the Representational Arts. Cambridge
(MA) 1990, S. 195–204, 214–259.
41 Karl Young: The Drama of the Medieval Church. Bd. 2, Oxford 1933, S. 225–38, hier
S. 238: et tantum quod populus quietetur a risu propter Synagogam expulsam.
Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Title
- Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Author
- Christine Beier
- Editor
- Michaela Schuller-Juckes
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21193-8
- Size
- 18.5 x 27.8 cm
- Pages
- 290
- Categories
- Geschichte Chroniken