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Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
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28 paul Binski ern, genau dann nichts Schlechtes, wenn damit etwas Gutes wie Scham, Mitleid oder Reue bewirkt wird. Obwohl uns also Emotionen „vorgelebt“ werden und wir sie nachvollziehen – über sie nachdenken oder sie mitempfinden wie etwa, wenn wir darüber lesen –, werden wir nicht von ihnen getrieben.40 Was Thomas hier he- rausarbeitet, ist das Thema der Vorsätzlichkeit: Alle Leidenschaften, die nicht rein unwillkürlich sind, sind auf etwas gerichtet. Diese Richtung auf etwas hin nennt man Affekt. Affekte sind eben keine Emotionen, sondern Empfindungen und Ver- änderungen, zu denen es kommt, weil der menschliche Wille und Leidenschaften aufeinander einwirken. Wir kommen einem Verständnis dieses Phänomens näher, wenn wir die Vorstellung von „Haltung“ sowohl als geistige als auch als körperliche Haltung betrachten. Affekte kann man lehren und gestalten. Wie ein Kunstwerk kann auch menschliches Verhalten und Empfinden durch Künste oder technai ge- formt werden. Im Fall der Betrachter der törichten Jungfrauen kann diese Verfasstheit Mitleid einschließen – ein von der Mildtätigkeit abgeleitetes Konzept –, oder auch eine Art des Jubels über den Segen der Gerechtigkeit Gottes. Mit anderen Worten: Eine mögliche Antwort auf solche Darstellungen wäre die, die törichten Jungfrauen ein- fach als dumme kurzsichtige Mädchen aufzufassen, die bekommen, was sie verdie- nen. Wir wissen, dass später, im Frankreich des 14. Jahrhunderts, das Missgeschick der Synagoga im liturgischen Drama so dargestellt wurde, dass es die Versammelten durchaus auch zu Gelächter hinreißen konnte.41 Diese Vorstellung mag heutzuta- ge widersinnig, gleichgültig, sogar grausam wirken, aber nur dann, wenn wir von unserem naturalistischen, grundlegend modernen Verständnis von Innerlichkeit, Emotion, moralischem Geschick und quasidemokratischer „Leutseligkeit“ ausge- hen. „Naturalistische“ Emotionstheorien führen uns aufs Glatteis. Ich möchte dagegenhalten, dass figurae, gleich ob drei- oder zweidimensional, konstruierte Hinweise oder Anleitungen sind, die gezielt Affekte hervorrufen und unsere Absichten in eine andere Richtung lenken. Sie sind ein öffentlich verifizier- bares Mittel, um zu betonen und hinzuweisen. Etwas, das auffällig, attraktiv oder scheinbar menschlich ist, wird eingesetzt, um Gedankenprozesse und Empfindun- gen auszulösen und in eine Richtung zu lenken, die von evidentia gewiesen wird. Das Ziel ist nicht kühl kalkuliertes Auslösen von Leidenschaften oder emotionalen Zwängen: Die Emotionen, oder besser die Affekte, sind als Prozesse zu verstehen und nicht als Ergebnisse. Sie sind Teil der Funktionsweise eines Kunstwerks und nicht sein Ziel. Sie richten die Neigungen der Betrachter aus, ihre Überzeugungen, ihr Urteilsvermögen. Ein mögliches Ergebnis einer solchen Ausrichtung ist ein Sin- neswandel: metanoia oder Reue. Und das führt zu Handlungen. 40 In diesem Zusammenhang verdanke ich viel den Erörterungen von Kendall Walton: Mimesis as Make-Believe: On the Foundations of the Representational Arts. Cambridge (MA) 1990, S. 195–204, 214–259. 41 Karl Young: The Drama of the Medieval Church. Bd. 2, Oxford 1933, S. 225–38, hier S. 238: et tantum quod populus quietetur a risu propter Synagogam expulsam.
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Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
Title
Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
Author
Christine Beier
Editor
Michaela Schuller-Juckes
Publisher
Böhlau Verlag
Location
Wien
Date
2020
Language
German
License
CC BY 4.0
ISBN
978-3-205-21193-8
Size
18.5 x 27.8 cm
Pages
290
Categories
Geschichte Chroniken
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