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michaEl Viktor schwarz
Luzifer nicht nur als riesigen, sondern auch vielgliedrigen Verschlinger schildert,
an die Seite stellen ließ. Dieses ausgedachte Gebilde wiederum auf die eingängige
Formel eines Kopfes mit drei Gesichtern und Mündern zu bringen, bedeutete eine
ästhetische und narrative Klärung.
Des Weiteren folgt Dantes Text-Luzifer dem Mosaik-Luzifer des Baptisteriums
darin, dass er den Lesern oder Hörern als Bewohner eines Kraters begegnet, nämlich
im unteren Ende der insgesamt trichterförmigen Hölle sitzend. Das Mosaik zeigt
einen dreieckig klaffenden Spalt, der, indem er die Höllenlandschaft zerschneidet,
so tief erscheint, wie es ohne perspektivische Mittel darstellbar war. Gemeint ist
der Höllengrund, von dem die autoritative Paulus-Vision (Kap. 32) sagt: Mensuram
non habet.9 Vergleichbar ist auch, wie Luzifer den Lesern der Commedia und den
Besuchern des Baptisteriums vor Augen kommt: Während er laut Text da mezzo il
petto (Inferno XXXIV, 29: von der halben Brust an aufwärts) aus der eingefrorenen
Spitze des Trichters ragt, reicht er im Bild vom Bauch an aufwärts in jenes Dreieck
von Goldgrund hinein, das der obere Teil des Trichters frei lässt. Aus dem Mosaik
ist demnach nicht nur Luzifers Gestalt, sondern sind auch wesentliche Elemente
ihrer Inszenierung in Dantes Inferno eingegangen.
Schließlich ist in diesem Kontext auch der Titel relevant, mit dem der Dichter
Dis-Luzifer vorstellt: Lo imperador del doloroso regno. Die Tnugdal-Vision führt
Luzifer noch moderat als den Princeps tenebrarum ein; „Fürst“ wird er auch sonst
genannt, etwa in den Pilatus-Akten (IV, 2: princeps tartari).10 In der Commedia ist
„Kaiser“ zunächst der Titel Gottes (Inferno I, 124). „Kaiser eines Königreichs“ für
Satan klingt von daher nicht nur bombastisch, sondern ist auch bedeutsam und be-
sonders, wenn ein in politischer Theorie versierter Autor spricht. Rex est imperator
in regno suo: Mit dieser Formel begründeten die französischen Könige und die nor-
mannischen Könige Siziliens ihre Souveränität gegenüber dem Römischen Reich
und dessen Haupt.11 Demnach ist die Titulatur der Commedia so zu verstehen:
Lucifer est deus in tartaro suo. Eine Art Gott in seiner Hölle ist aber auch Luzifer im
Florentiner Weltgericht. Wie der als Richter wiedergekehrte Christus den Regen-
bogen zu seinem Sitz gewählt hat, brät dort nicht, sondern thront Luzifer auf seiner
Esse: die Arme ausgebreitet, das linke Bein angezogen, das rechte zur Seite gesetzt.
Die Kongruenzen können den Künstlern nicht „unterlaufen“ sein, und wer Sinn
in dem Bild sucht, übersieht sie nicht. Dass Hilfsteufel zwei Seelen unter Luzifers
Füße schieben und zu dem brennenden Thron lebendige Schemel stellen, rundet
die Aussage ab. Klar ist dabei, dass sie in einem Kirchenraum nur als Travestie ge-
meint sein kann – und auf eine solche deuten auch die tütenförmigen Eselsohren,
die Satans Raubtierfratze konterkarieren.
In der Erhöhung Luzifers greift das Florentiner Bild über die Tnugdal-Vision
und, soweit ich sehe, über alle älteren Bilder und Texte zum christlichen Jenseits
hinaus. Auch darin lieferte es Dante eine Vorlage, die er weiterentwickelte: Sein
Unterweltgott weint, während er kaut. Die mit Speichel und Blut gemischten Trä-
9 Apocrypha Anecdota: A Collection of Thirteen Apocryphal Books and Fragments, hg.
von Montague Rhodes James, Cambridge 1893, S. 29.
10 Evangelia Apocrypha, hg. von Konstantin von Tischendorf, Leipzig 1876, S. 395.
11 Francis Harry Hinsley: Sovereignty. Cambridge 19862, S. 88. David Abulafia: Frederick
II.A Medieval Emperor. London 1988, S. 211.
Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Title
- Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Author
- Christine Beier
- Editor
- Michaela Schuller-Juckes
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21193-8
- Size
- 18.5 x 27.8 cm
- Pages
- 290
- Categories
- Geschichte Chroniken