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michaEl Viktor schwarz
Ostkuppel)26 sowie als Goldlinien-Zeichnung am Gewand der auf 1261 datierten
und signierten Madonnentafel des Coppo di Marcovaldo (Santa Maria dei Ser-
vi, Siena).27 Was die Hölle aus der Gesamtheit des mosaizierten Gerichtsbildes,
aus dem venezianischen Vorfeld und der florentinischen Nachfolge dieses Bildes,
ja aus der gesamten vor-giottesken Kunstproduktion Italiens heraushebt, sind die
komplexe Dynamik und Lebendigkeit der Figuren, sowie der Reichtum an erzähle-
rischer Erfindung. Diese Eigenarten haben mit dem Thema zu tun, doch zeigt ein
Blick auf die Hölle des Weltgerichtsmosaiks in Torcello, dass man die erforderliche
Motivik auch ohne agile Figuren und detailverliebt sadistische Narration abarbei-
ten kann.28 Mitverantwortlich für die besondere Erscheinung der Florentiner Hölle
(nicht nur ihrer Hauptfigur) ist sicher die Visio Tnugdali, wobei aber keine der
im Mosaik dargestellten Folterszenen eine regelrechte Illustration dieses Textes ist.
Wenn es in Tnugdals Hölle geschehen kann, dass eine Seele in einer Bratpfanne (in
sartagine)29 landet, wird sie in der Hölle des Baptisteriums am Spieß gegart. Insge-
samt war vielleicht prägender, wie gnadenlos anschaulich grausame Gewalt erzählt
wird, als was genau erzählt wird, aber das ist im Vergleich der Medien schwer zu
objektivieren.
Entscheidend für die Figuren und ihre Narration ist, dass sie in einer Art Land-
schaft freigesetzt agieren. Abgesehen von bestimmten, die Luzifer-Figur einfassen-
den Symmetrie-Effekten ist es ein kontinuierlich chaotischer Bildraum, der im
selben Maß von den vielfältigen Bewegungen und Beziehungen der Dämonen
und Seelen konstituiert wird wie von den schroffen, glühenden Felsformationen.
Darin unterscheidet sich die Florentiner Hölle von den Höllen älterer Gerichts-
bilder wie dem in Torcello, die in abgegrenzte, bestimmten Sünden gewidmete
Straforte eingeteilt sind, ebenso wie von den berühmten, unter dem Eindruck der
Commedia gleichfalls parzellierten Darstellungen aus dem Trecento (Camposanto
in Pisa, Strozzi-Kapelle von Santa Maria Novella usw.).30 Überdies hebt sie sich
darin von den in den Texten erzählten Höllen ab: Ketten von Straforten, aufgereiht
an einer topographisch maskierten Zeitlinie, wie sie in den Jenseitswanderungen
von Aeneas und Paulus über Tnugdal bis Dante erscheinen.31 Der Wechsel von
der aufgegliederten Hölle zur Höllen-Totale erwies sich als eine Innovation mit
großen Folgen. Das Florentiner Mosaik lieferte die wichtigste Vorgabe für Giottos
Hölle im Weltgericht der Arena-Kapelle, die zwar keine Landschaft, sondern eine
Höhle ist, die der Maler aber wie eine Landschaft besiedelt hat.32 Sodann kehrt die
26 Ernest J. W. Hawkins / Liz James: The East Dome of S. Marco: A Reconsideration. In:
Dumbarton Oaks Papers 48 (1994), S. 229–242.
27 Marc Wilde: Das unbekannte Schlüsselwerk: Die Madonna del Bordone des Coppo
di Marcovaldo. Weimar 2004; Rebecca W. Corrie: Images of the Virgin and Power in
Late-Duecento Siena. In: Art as Politics in Late Medieval and Renaissance Siena, hg. von
Timothy B. Smith / Judith B. Steinhoff, Farnham 2012, S. 83–95.
28 Clementina Rizzardi: La decorazione musiva: Torcello e la cultura artistica mediobizan-
tina. In: Torcello – Alle origini di Venezia tra Occidente e Oriente, hg. von Gianmatteo
Caputo / Giovanni Gentili, Venedig 2009, S. 60–85; Alfa e Omega (zit. Anm. 8), S. 57–58.
29 Visio Tnugdali (zit. Anm. 3), S. 13.
30 Marion Opitz: Monumentale Höllendarstellungen in der Toskana. Frankfurt a. M. 1998.
31 Benz, Gesicht und Schrift (Anm. 13), S. 5.
32 Edward Francis Rothschild / Ernest Hatch Wilkins: Hell in the Florentine Baptistery
Mosaic and Giotto’s Paduan Fresco. In: Art Studies 6 (1928), S. 31–35.
Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Title
- Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Author
- Christine Beier
- Editor
- Michaela Schuller-Juckes
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21193-8
- Size
- 18.5 x 27.8 cm
- Pages
- 290
- Categories
- Geschichte Chroniken