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michaEl Viktor schwarz
Le style c’est le diable
Sucht man nach Vergleichen für die so geschmeidige wie ausdrucksstarke Beweg-
lichkeit der Figuren, so wird man an zwei Stellen fündig: Die eine ist die Malerei
des mitteleuropäischen Zackenstils,37 und zwar in der Phase ab ca. 1230. Nach ei-
nem „Qualitätssprung“ (Harald Wolter-von dem Knesebeck), der mit der Rezep-
tion von neuem Vorlagenmaterial zu tun haben muss, zeigt sich plötzlich mehr als
nur eine spezielle Behandlung der Gewänder.38 Unter den Verdammten, die über
Geröll in die Hölle gejagt werden, fällt als eine besonders gelungene Figur der
falsche Prophet im Vordergrund auf, der niederstürzt, mit der Linken Halt und
mit dem aus dem Bild gewendeten Blick wohl Beistand sucht, während er mit der
Rechten eine klagende oder schützende Bewegung vollführt. Ein hinter ihm flat-
ternder Gewandzipfel zeigt, wie schnell alles vor sich geht (Abb. 3). Es handelt sich
um einen zugleich komplexen und flüssigen Bewegungsablauf, wie man ihn in der
antiken Kunst findet, aber kaum je in Malereien des westlichen Hochmittelalters.
Ähnlich konstruiert ist jedoch der Anastasis-Christus im sog. Wolfenbüttler Mus-
terbuch. Vergleichbar ist auch, wie die Zackenfalten des Gewandes die Gestalt wei-
ter dynamisieren (Cod. Guelf. 61.2 Aug. 8°, fol. 92v, Abb. 4). Eine Variante bietet
der Stürzende in einer Initiale der Herzogenburger Moralia in Job (Stiftsbibliothek,
Cod. 95, fol. 121v, Abb. 5):39 Bebildert wird Jesus Sirach 22,2, den Gregor mit dem
Satz zitiert: De stercore boum lapidatus est piger (Der Faule wird mit Ochsenmist
gesteinigt). Deutlicher noch als im Mosaik und in der Zeichnung fungiert das in
Zackenfalten gelegte Gewand als eine Art Kontrapunkt zur Körperhaltung.
Der andere Bereich, wo sich bewegte Figuren ähnlich denen in der Florentiner
Hölle finden, ist die Malerei der sog. Makedonischen Renaissance, d. h. die haupt-
sächlich in Form von Buchschmuck überlieferte byzantinische Malerei der beiden
Jahrhunderte nach dem Bilderstreit, die sich aus wieder erschlossenen spätantiken
Quellen speiste und gleichzeitig das Vorlagenrepertoire für verschiedene Regene-
rationsphasen der byzantinischen Kunst in den folgenden Jahrhunderten bereit-
stellte.40 Der Florentiner falsche Prophet ist am besten mit der Figur des Märtyrers
37 Margit Lisner war die erste, die im Zusammenhang mit dem Florentiner Weltgerichts-
mosaik von „Zackenstil“ sprach: Margit Lisner: Die Gewandfarben der Apostel in Giot-
tos Arenafresken: Farbgebung und Farbikonographie. In: Zeitschrift für Kunstgeschich-
te 55 (1990), S. 309–375, bes. S. 341.
38 Harald Wolter-von dem Knesebeck: Felder der Ausdifferenzierung von Stilformen und
Stilbegriff. Der Zackenstil und die Musterbuchfrage. In: Stilfragen zur Kunst des Mit-
telalters: Eine Einführung, hg. von Bruno Klein / Bruno Börner, Berlin 2006, S. 95–122,
bes. S. 113; Harald Wolter-von dem Knesebeck: Die mittelalterlichen Wandmalerei-
en von St. Blasii in Braunschweig. In: Die Wandmalereien im Braunschweiger Dom
St. Blasii, hg. von Harald Wolter-von dem Knesebeck / Joachim Hempel, Regensburg
2014, S. 165–240, bes. S. 177–186.
39 Hanns Swarzenski: Eine Handschrift von Gregors „Moralia in Job“ in Herzogenburg,
Niederösterreich. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch N. F. 1 (1930), S. 9–25; Patricia Decker:
The Herzogenburg Manuscript of the Moralia in Job. Dissertation, Columbia Universi-
ty 2002.
40 Viktor Lazarev: Storia della pittura bizantina. Turin 1967, S. 125–184; vgl. Kurt Weitz-
mann: Geistige Grundlagen und Wesen der Makedonischen Renaissance. Wiesbaden
1963. Die Bedenken gegen die Verwendung des Renaissance-Begriffs sind bekannt.
Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Title
- Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Author
- Christine Beier
- Editor
- Michaela Schuller-Juckes
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21193-8
- Size
- 18.5 x 27.8 cm
- Pages
- 290
- Categories
- Geschichte Chroniken