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christinE JakoBi-mirwald
Gereon Becht-Jördens hat vorgeschlagen, die Schnitte als „Würdezeichen“ zu in-
terpretieren;62 ihre Aufgabe sei es gewesen, der Handschrift ein altes und ehrwür-
diges, vielleicht auch materiell verletzliches Gepräge zu verleihen.63 Voelkle lehnt
das mit dem Argument ab, dafür gebe es keine Vorbilder.64 Allerdings beschränken
sich die derzeit verfügbaren Belege für Ziernähte auf Pergament im Wesentlichen
auf den Alpenraum. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass die Frage nur noch zu
wenig beachtet wurde, weitere Beispiele können existieren. Andererseits würden
„Entspannungsnähte“ von einem vergleichbaren Umfang auch einem flüchtigen
Betrachter auffallen, der sich durch die täglich zunehmende Menge verfügbarer
Digitalisate blättert.
Viel wahrscheinlicher erscheint die Überlegung, dass die artifiziellen Ziernähte
eine Art regionale Mode ausgelöst haben, die dann vor allem im Kulminations-
punkt des Berthold-Sakramentars in einer nie dagewesenen, manierierten Form zu
der Wirkung des Archaischen, Verletzbaren geführt wurden, dem auch eine eigene
ästhetische Wirkung zukam. Dies stellt freilich nicht in Abrede, dass das Pergament
des Sakramentars sehr wohl auch „echte“ Schäden wie Löcher oder kleine Risse auf-
weist, die ebenso sorgfältig versäubert wurden; zudem werfen die Seiten an Stellen
tatsächlich auch nicht „behandelte“ Falten auf. Speziell in diesem Buch geht der
Wille, sichtbar reparierend tätig zu werden, über das sonst Übliche deutlich hinaus.
Diese Betonung von Alter und Verletzlichkeit wird durch Sciaccas Beobachtung,
dass beide große Sakramentarhandschriften mit farblich auf die Nähte abgestimm-
ten seidenen Velen über den Miniaturen und sogar Initialen ausgestattet sind, be-
kräftigt und um einen zusätzlichen Aspekt erweitert. Sie zeigt, dass eine materielle
Beobachtung (Schutzfunktion) und eine darüber hinausgehende Interpretation
(zusätzliche Mystifizierung bzw. re-velatio)65 sich nicht nur nicht gegenseitig aus-
schließen müssen, sondern sogar bekräftigen können.
nasconi-Reusser / Christine Jakobi-Mirwald: Rammendi – miniature – tessuti. Lavori
da monache a Engelberg (Arbeitstitel), auf der Tagung Dans le manuscrit et en dehors.
Échanges entre l’enluminure et les autres arts (22.–24.10.2020, Université de Lausanne).
62 Herzlichen Dank an Gereon Becht-Jördens (Schriesheim) für den andauernden anre-
genden Dialog. Zum Begriff Würdezeichen in anderem Zusammenhang vgl. Gereon
Becht-Jördens: Schrift im Mittelalter. Zeichen des Heils. In: Erscheinungsformen und
Handhabung heiliger Schriften, hg. von Joachim Friedrich Quack / Daniela Luft, Ber-
lin / München / Boston 2014 (Materiale Textkulturen. Schriftenreihe des Sonderfor-
schungsbereichs 933. 5), S. 263–310, zum Berthold-Sakramentar S. 270.
63 Vgl. auch die Diskussion zum Konstanzer Vortrag von Friederike Ginsbach (zit.
Anm. 31).
64 Voelkle in: Das Berthold-Sakramentar 2013–2014 (zit. Anm. 10), S. 17, bezieht sich auf
meinen Aufsatz, ohne Namen zu nennen („Man hat zwar vorgeschlagen“ …).
65 Sciacca, The Gradual (zit. Anm. 13), S. 80–81. Vgl. Kathryn M. Rudy / Barbara Baert
(Hg.): Weaving, Veiling, and Dressing: Textiles and Their Metaphors in the Late Middle
Ages. Turnhout 2007, dort vor allem Christine Sciacca: Raising the Curtain on the Use
of Textiles in Manuscripts, S. 161–72, S. 181–190.
Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Title
- Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Author
- Christine Beier
- Editor
- Michaela Schuller-Juckes
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21193-8
- Size
- 18.5 x 27.8 cm
- Pages
- 290
- Categories
- Geschichte Chroniken