Page - 5 - in Briefe an den Vater
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Irgendeine Ahnung dessen, was ich sagen will, hast Du
merkwürdigerweise. So hast Du mir zum Beispiel vor kurzem gesagt: »ich
habe Dich immer gern gehabt, wenn ich auch äußerlich nicht so zu Dir war
wie andere Väter zu sein pflegen, eben deshalb weil ich mich nicht verstellen
kann wie andere«. Nun habe ich, Vater, im ganzen niemals an Deiner Güte
mir gegenüber gezweifelt, aber diese Bemerkung halte ich für unrichtig. Du
kannst Dich nicht verstellen, das ist richtig, aber nur aus diesem Grunde
behaupten wollen, daß die andern Väter sich verstellen, ist entweder bloße,
nicht weiter diskutierbare Rechthaberei oder aber – und das ist es meiner
Meinung nach wirklich – der verhüllte Ausdruck dafür, daß zwischen uns
etwas nicht in Ordnung ist und daß Du es mitverursacht hast, aber ohne
Schuld. Meinst Du das wirklich, dann sind wir einig.
Ich sage ja natürlich nicht, daß ich das, was ich bin, nur durch Deine
Einwirkung geworden bin. Das wäre sehr übertrieben (und ich neige sogar zu
dieser Übertreibung). Es ist sehr leicht möglich, daß ich, selbst wenn ich ganz
frei von Deinem Einfluß aufgewachsen wäre, doch kein Mensch nach Deinem
Herzen hätte werden können. Ich wäre wahrscheinlich doch ein
schwächlicher, ängstlicher, zögernder, unruhiger Mensch geworden, weder
Robert Kafka noch Karl Hermann, aber doch ganz anders, als ich wirklich
bin, und wir hätten uns ausgezeichnet miteinander vertragen können. Ich wäre
glücklich gewesen, Dich als Freund, als Chef, als Onkel, als Großvater, ja
selbst (wenn auch schon zögernder) als Schwiegervater zu haben. Nur eben
als Vater warst Du zu stark für mich, besonders da meine Brüder klein
starben, die Schwestern erst lange nachher kamen, ich also den ersten Stoß
ganz allein aushalten mußte, dazu war ich viel zu schwach.
Vergleich uns beide: ich, um es sehr abgekürzt auszudrücken, ein Löwy mit
einem gewissen Kafkaschen Fond, der aber eben nicht durch den Kafkaschen
Lebens-, Geschäfts-, Eroberungswillen in Bewegung gesetzt wird, sondern
durch einen Löwy’schen Stachel, der geheimer, scheuer, in anderer Richtung
wirkt und oft überhaupt aussetzt. Du dagegen ein wirklicher Kafka an Stärke,
Gesundheit, Appetit, Stimmkraft, Redebegabung, Selbstzufriedenheit,
Weltüberlegenheit, Ausdauer, Geistesgegenwart, Menschenkenntnis, einer
gewissen Großzügigkeit, natürlich auch mit allen zu diesen Vorzügen
gehörigen Fehlern und Schwächen, in welche Dich Dein Temperament und
manchmal Dein Jähzorn hineinhetzen. Nicht ganzer Kafka bist Du vielleicht
in Deiner allgemeinen Weltansicht, soweit ich Dich mit Onkel Philipp,
Ludwig, Heinrich vergleichen kann. Das ist merkwürdig, ich sehe hier auch
nicht ganz klar. Sie waren doch alle fröhlicher, frischer, ungezwungener,
leichtlebiger, weniger streng als Du. (Darin habe ich übrigens viel von Dir
geerbt und das Erbe viel zu gut verwaltet, ohne allerdings die nötigen
Gegengewichte in meinem Wesen zu haben, wie Du sie hast.) Doch hast auch
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Briefe an den Vater
- Title
- Briefe an den Vater
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1919
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 40
- Categories
- Weiteres Belletristik