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Schwimmbewegungen nachzumachen, die Du mir in guter Absicht, aber
tatsächlich zu meiner tiefen Beschämung immerfort vormachtest, dann war
ich sehr verzweifelt und alle meine schlimmen Erfahrungen auf allen
Gebieten stimmten in solchen Augenblicken großartig zusammen. Am
wohlsten war mir noch, wenn Du Dich manchmal zuerst auszogst und ich
allein in der Kabine bleiben und die Schande des öffentlichen Auftretens so
lange hinauszögern konnte, bis Du endlich nachschauen kamst und mich aus
der Kabine triebst. Dankbar war ich Dir dafür, daß Du meine Not nicht zu
bemerken schienest, auch war ich stolz auf den Körper meines Vaters.
Übrigens besteht zwischen uns dieser Unterschied heute noch ähnlich.
Dem entsprach weiter Deine geistige Oberherrschaft. Du hattest Dich allein
durch eigene Kraft so hoch hinaufgearbeitet, infolgedessen hattest Du
unbeschränktes Vertrauen zu Deiner Meinung. Das war für mich als Kind
nicht einmal so blendend wie später für den heranwachsenden jungen
Menschen. In Deinem Lehnstuhl regiertest Du die Welt. Deine Meinung war
richtig, jede andere war verrückt, überspannt, meschugge, nicht normal.
Dabei war Dein Selbstvertrauen so groß, daß Du gar nicht konsequent sein
mußtest und doch nicht aufhörtest recht zu haben. Es konnte auch
vorkommen, daß Du in einer Sache gar keine Meinung hattest und
infolgedessen alle Meinungen, die hinsichtlich der Sache überhaupt möglich
waren, ohne Ausnahme falsch sein mußten. Du konntest zum Beispiel auf die
Tschechen schimpfen, dann auf die Deutschen, dann auf die Juden, und zwar
nicht nur in Auswahl, sondern in jeder Hinsicht, und schließlich blieb
niemand mehr übrig außer Dir. Du bekamst für mich das Rätselhafte, das alle
Tyrannen haben, deren Recht auf ihrer Person, nicht auf dem Denken
begründet ist. Wenigstens schien es mir so.
Nun behieltest Du ja mir gegenüber tatsächlich erstaunlich oft recht, im
Gespräch war das selbstverständlich, denn zum Gespräch kam es kaum, aber
auch in Wirklichkeit. Doch war auch das nichts besonders Unbegreifliches:
Ich stand ja in allem meinem Denken unter Deinem schweren Druck, auch in
dem Denken, das nicht mit dem Deinen übereinstimmte und besonders in
diesem. Alle diese von Dir scheinbar unabhängigen Gedanken waren von
Anfang an belastet mit Deinem absprechenden Urteil; bis zur vollständigen
und dauernden Ausführung des Gedankens das zu ertragen, war fast
unmöglich. Ich rede hier nicht von irgendwelchen hohen Gedanken, sondern
von jedem kleinen Unternehmen der Kinderzeit. Man mußte nur über
irgendeine Sache glücklich sein, von ihr erfüllt sein, nach Hause kommen und
es aussprechen und die Antwort war ein ironisches Seufzen, ein
Kopfschütteln, ein Fingerklopfen auf den Tisch: »Hab auch schon etwas
Schöneres gesehn« oder »Mir gesagt Deine Sorgen« oder »ich hab keinen so
geruhten Kopf« oder »Kauf Dir was dafür!« oder »Auch ein Ereignis!«
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Briefe an den Vater
- Title
- Briefe an den Vater
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1919
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 40
- Categories
- Weiteres Belletristik