Page - 10 - in Briefe an den Vater
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Himmelsgebot, ich vergaß es nie, es blieb mir das wichtigste Mittel zur
Beurteilung der Welt, vor allem zur Beurteilung Deiner selbst, und da
versagtest Du vollständig. Da ich als Kind hauptsächlich beim Essen mit Dir
beisammen war, war Dein Unterricht zum großen Teil Unterricht im richtigen
Benehmen bei Tisch. Was auf den Tisch kam, mußte aufgegessen, über die
Güte des Essens durfte nicht gesprochen werden – Du aber fandest das Essen
oft ungenießbar; nanntest es »das Fressen« – das »Vieh« (die Köchin) hatte es
verdorben. Weil Du entsprechend Deinem kräftigen Hunger und Deiner
besonderen Vorliebe alles schnell, heiß und in großen Bissen gegessen hast,
mußte sich das Kind beeilen, düstere Stille war bei Tisch, unterbrochen von
Ermahnungen: »zuerst iß, dann sprich« oder »schneller, schneller, schneller«
oder »siehst Du, ich habe schon längst aufgegessen«. Knochen durfte man
nicht zerreißen, Du ja. Essig durfte man nicht schlürfen, Du ja. Die
Hauptsache war, daß man das Brot gerade schnitt; daß Du das aber mit einem
von Sauce triefenden Messer tatest, war gleichgültig. Man mußte achtgeben,
daß keine Speisereste auf den Boden fielen, unter Dir lag schließlich am
meisten. Bei Tisch durfte man sich nur mit Essen beschäftigen, Du aber
putztest und schnittest Dir die Nägel, spitztest Bleistifte, reinigtest mit dem
Zahnstocher die Ohren. Bitte, Vater, verstehe mich recht, das wären an sich
vollständig unbedeutende Einzelheiten gewesen, niederdrückend wurden sie
für mich erst dadurch, daß Du, der für mich so ungeheuer maßgebende
Mensch, Dich selbst an die Gebote nicht hieltest, die Du mir auferlegtest.
Dadurch wurde die Welt für mich in drei Teile geteilt, in einen, wo ich, der
Sklave, lebte, unter Gesetzen, die nur für mich erfunden waren und denen ich
überdies, ich wußte nicht warum, niemals völlig entsprechen konnte, dann in
eine zweite Welt, die unendlich von meiner entfernt war, in der Du lebtest,
beschäftigt mit der Regierung, mit dem Ausgeben der Befehle und mit dem
Ärger wegen deren Nichtbefolgung, und schließlich in eine dritte Welt, wo
die übrigen Leute glücklich und frei von Befehlen und Gehorchen lebten. Ich
war immerfort in Schande, entweder befolgte ich Deine Befehle, das war
Schande, denn sie galten ja nur für mich; oder ich war trotzig, das war auch
Schande, denn wie durfte ich Dir gegenüber trotzig sein, oder ich konnte nicht
folgen, weil ich zum Beispiel nicht Deine Kraft, nicht Deinen Appetit, nicht
Deine Geschicklichkeit hatte, trotzdem Du es als etwas Selbstverständliches
von mir verlangtest; das war allerdings die größte Schande. In dieser Weise
bewegten sich nicht die Überlegungen, aber das Gefühl des Kindes.
Meine damalige Lage wird vielleicht deutlicher, wenn ich sie mit der von
Felix vergleiche. Auch ihn behandelst Du ja ähnlich, ja wendest sogar ein
besonders fürchterliches Erziehungsmittel gegen ihn an, indem Du, wenn er
beim Essen etwas Deiner Meinung nach Unreines macht, Dich nicht damit
begnügst, wie damals zu mir zu sagen: »Du bist ein großes Schwein«,
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Briefe an den Vater
- Title
- Briefe an den Vater
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1919
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 40
- Categories
- Weiteres Belletristik