Page - 16 - in Briefe an den Vater
Image of the Page - 16 -
Text of the Page - 16 -
es zu keiner eigentlichen Versöhnung kam, daß die Mutter mich vor Dir bloß
im Geheimen schützte, mir im Geheimen etwas gab, etwas erlaubte, dann war
ich wieder vor Dir das lichtscheue Wesen, der Betrüger, der Schuldbewußte,
der wegen seiner Nichtigkeit selbst zu dem, was er für sein Recht hielt, nur
auf Schleichwegen kommen konnte. Natürlich gewöhnte ich mich dann, auf
diesen Wegen auch das zu suchen, worauf ich, selbst meiner Meinung nach,
kein Recht hatte. Das war wieder Vergrößerung des Schuldbewußtseins.
Es ist auch wahr, daß Du mich kaum einmal wirklich geschlagen hast. Aber
das Schreien, das Rotwerden Deines Gesichts, das eilige Losmachen der
Hosenträger, ihr Bereitliegen auf der Stuhllehne, war für mich fast ärger. Es
ist, wie wenn einer gehängt werden soll. Wird er wirklich gehenkt, dann ist er
tot und es ist alles vorüber. Wenn er aber alle Vorbereitungen zum
Gehenktwerden miterleben muß und erst wenn ihm die Schlinge vor dem
Gesicht hängt, von seiner Begnadigung erfährt, so kann er sein Leben lang
daran zu leiden haben. Überdies sammelte sich aus diesen vielen Malen, wo
ich Deiner deutlich gezeigten Meinung nach Prügel verdient hätte, ihnen aber
aus Deiner Gnade noch knapp entgangen war, wieder nur ein großes
Schuldbewußtsein an. Von allen Seiten her kam ich in Deine Schuld.
Seit jeher machtest Du mir zum Vorwurf (und zwar mir allein oder vor
anderen, für das Demütigende des letzteren hattest Du kein Gefühl, die
Angelegenheiten Deiner Kinder waren immer öffentliche), daß ich dank
Deiner Arbeit ohne alle Entbehrungen in Ruhe, Wärme, Fülle lebte. Ich denke
da an Bemerkungen, die in meinem Gehirn förmlich Furchen gezogen haben
müssen, wie: »Schon mit sieben Jahren mußte ich mit dem Karren durch die
Dörfer fahren.« »Wir mußten alle in einer Stube schlafen.« »Wir waren
glücklich, wenn wir Erdäpfel hatten.« »Jahrelang hatte ich wegen
ungenügender Winterkleidung offene Wunden an den Beinen.« »Als kleiner
Junge mußte ich schon nach Pisek ins Geschäft.« »Von zuhause bekam ich
gar nichts, nicht einmal beim Militär, ich schickte noch Geld nachhause.«
»Aber trotzdem, trotzdem – der Vater war mir immer der Vater. Wer weiß das
heute! Was wissen die Kinder! Das hat niemand gelitten! Versteht das heute
ein Kind?« Solche Erzählungen hätten unter anderen Verhältnissen ein
ausgezeichnetes Erziehungsmittel sein können, sie hätten zum Überstehen der
gleichen Plagen und Entbehrungen, die der Vater durchgemacht hatte,
aufmuntern und kräftigen können. Aber das wolltest Du doch gar nicht, die
Lage war ja eben durch das Ergebnis Deiner Mühe eine andere geworden,
Gelegenheit, sich in der Weise auszuzeichnen, wie Du es getan hattest, gab es
nicht. Eine solche Gelegenheit hätte man erst durch Gewalt und Umsturz
schaffen müssen, man hätte von zu Hause ausbrechen müssen (vorausgesetzt,
daß man die Entschlußfähigkeit und Kraft dazu gehabt hätte und die Mutter
nicht ihrerseits mit anderen Mitteln dagegen gearbeitet hätte). Aber das alles
16
back to the
book Briefe an den Vater"
Briefe an den Vater
- Title
- Briefe an den Vater
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1919
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 40
- Categories
- Weiteres Belletristik