Page - 20 - in Briefe an den Vater
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der Mutter in der Familie war. Sie hat sich im Geschäft, im Haushalt geplagt,
alle Krankheiten der Familie doppelt mitgelitten, aber die Krönung alles
dessen war das, was sie in ihrer Zwischenstellung zwischen uns und Dir
gelitten hat. Du bist immer liebend und rĂĽcksichtsvoll zu ihr gewesen, aber in
dieser Hinsicht hast Du sie ganz genau so wenig geschont, wie wir sie
geschont haben. Rücksichtslos haben wir auf sie eingehämmert, Du von
Deiner Seite, wir von unserer. Es war eine Ablenkung, man dachte an nichts
Böses, man dachte nur an den Kampf, den Du mit uns, den wir mit Dir
fĂĽhrten, und auf der Mutter tobten wir uns aus. Es war auch kein guter Beitrag
zur Kindererziehung, wie Du sie – ohne jede Schuld Deinerseits natürlich –
unseretwegen quältest. Es rechtfertigte sogar scheinbar unser sonst nicht zu
rechtfertigendes Benehmen ihr gegenĂĽber. Was hat sie von uns Deinetwegen
und von Dir unseretwegen gelitten, ganz ungerechnet jene Fälle, wo Du recht
hattest, weil sie uns verzog, wenn auch selbst dieses »Verziehn« manchmal
nur eine stille, unbewuĂźte Gegendemonstration gegen Dein System gewesen
sein mag. Natürlich hätte die Mutter das alles nicht ertragen können, wenn sie
nicht aus der Liebe zu uns allen und aus dem GlĂĽck dieser Liebe die Kraft
zum Ertragen genommen hätte.
Die Schwestern gingen nur zum Teil mit mir. Am glĂĽcklichsten in ihrer
Stellung zu Dir war Valli. Am nächsten der Mutter stehend, fügte sie sich Dir
auch ähnlich, ohne viel Mühe und Schaden. Du nahmst sie aber auch, eben in
Erinnerung an die Mutter, freundlicher hin, trotzdem wenig Kafka’sches
Material in ihr war. Aber vielleicht war Dir gerade das recht; wo nichts
Kafka’sches war, konntest selbst Du nichts Derartiges verlangen; Du hattest
auch nicht, wie bei uns andern, das GefĂĽhl, daĂź hier etwas verlorenging, das
mit Gewalt gerettet werden müßte. Übrigens magst Du das Kafka’sche,
soweit es sich in Frauen geäußert hat, niemals besonders geliebt haben. Das
Verhältnis Vallis zu Dir wäre sogar vielleicht noch freundlicher geworden,
wenn wir anderen es nicht ein wenig gestört hätten.
Die Elli ist das einzige Beispiel für das fast vollständige Gelingen eines
Durchbruches aus Deinem Kreis. Von ihr hätte ich es in ihrer Kindheit am
wenigsten erwartet. Sie war doch ein so schwerfälliges, müdes, furchtsames,
verdrossenes, schuldbewußtes, überdemütiges, boshaftes, faules, genäschiges,
geiziges Kind, ich konnte sie kaum ansehn, gar nicht ansprechen, so sehr
erinnerte sie mich an mich selbst, so sehr ähnlich stand sie unter dem gleichen
Bann der Erziehung. Besonders ihr Geiz war mir abscheulich, da ich ihn
womöglich noch stärker hatte. Geiz ist ja eines der verläßlichsten Anzeichen
tiefen Unglücklichseins; ich war so unsicher aller Dinge, daß ich tatsächlich
nur das besaß, was ich schon in den Händen oder im Mund hielt oder was
wenigstens auf dem Wege dorthin war, und gerade das nahm sie, die in
ähnlicher Lage war, mir am liebsten fort. Aber das alles änderte sich, als sie in
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Briefe an den Vater
- Title
- Briefe an den Vater
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1919
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 40
- Categories
- Weiteres Belletristik