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Verbündeten verloren, aber der Anblick von Euch beiden hätte mich reich
entschädigt, auch wärest ja Du durch das unabsehbare Glück, wenigstens in
einem Kind volle Befriedigung zu finden, sehr zu meinen Gunsten verwandelt
worden. Das alles ist heute allerdings nur ein Traum. Ottla hat keine
Verbindung mit dem Vater, muß ihren Weg allein suchen, wie ich, und um das
Mehr an Zuversicht, Selbstvertrauen, Gesundheit, Bedenkenlosigkeit, das sie
im Vergleich mit mir hat, ist sie in Deinen Augen böser und verräterischer als
ich. Ich verstehe das; von Dir aus gesehen kann sie nicht anders sein. Ja sie
selbst ist imstande, mit Deinen Augen sich anzusehen, Dein Leid mitzufühlen
und darüber – nicht verzweifelt zu sein, Verzweiflung ist meine Sache – aber
sehr traurig zu sein. Du siehst uns zwar, in scheinbarem Widerspruch hiezu,
oft beisammen, wir flüstern, lachen, hie und da hörst Du Dich erwähnen. Du
hast den Eindruck von frechen Verschwörern. Merkwürdige Verschwörer. Du
bist allerdings ein Hauptthema unserer Gespräche wie unseres Denkens seit
jeher, aber wahrhaftig nicht, um etwas gegen Dich auszudenken, sitzen wir
beisammen, sondern um mit aller Anstrengung, mit Spaß, mit Ernst, mit
Liebe, Trotz, Zorn, Widerwille, Ergebung, Schuldbewußtsein, mit allen
Kräften des Kopfes und Herzens diesen schrecklichen Prozeß, der zwischen
uns und Dir schwebt, in allen Einzelheiten, von allen Seiten, bei allen
Anlässen, von fern und nah gemeinsam durchzusprechen, diesen Prozeß, in
dem Du immerfort Richter zu sein behauptest, während Du, wenigstens zum
größten Teil (hier lasse ich die Tür allen Irrtümern offen, die mir natürlich
begegnen können) ebenso schwache und verblendete Partei bist wie wir.
Ein im Zusammenhang des Ganzen lehrreiches Beispiel Deiner
erzieherischen Wirkung war Irma. Einerseits war sie doch eine Fremde, kam
schon erwachsen in Dein Geschäft, hatte mit Dir hauptsächlich als ihrem Chef
zu tun, war also nur zum Teil und in einem schon widerstandsfähigen Alter
Deinem Einfluß ausgesetzt; andererseits aber war sie doch auch eine
Blutsverwandte, verehrte in Dir den Bruder ihres Vaters, und Du hattest über
sie viel mehr als die bloße Macht eines Chefs. Und trotzdem ist sie, die in
ihrem schwachen Körper so tüchtig, klug, fleißig, bescheiden,
vertrauenswürdig, uneigennützig, treu war, die Dich als Onkel liebte und als
Chef bewunderte, die in anderen Posten vorher und nachher sich bewährte,
Dir keine sehr gute Beamtin gewesen. Sie war eben, natürlich auch von uns
hingedrängt, Dir gegenüber nahe der Kinderstellung, und so groß war noch
ihr gegenüber die umbiegende Macht Deines Wesens, daß sich bei ihr
(allerdings nur Dir gegenüber und, hoffentlich, ohne das tiefere Leid des
Kindes) Vergeßlichkeit, Nachlässigkeit, Galgenhumor, vielleicht sogar ein
wenig Trotz, soweit sie dessen überhaupt fähig war, entwickelten, wobei ich
gar nicht in Rechnung stelle, daß sie kränklich gewesen ist, auch sonst nicht
sehr glücklich war und eine trostlose Häuslichkeit auf ihr lastete. Das für
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Briefe an den Vater
- Title
- Briefe an den Vater
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1919
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 40
- Categories
- Weiteres Belletristik