Page - 25 - in Briefe an den Vater
Image of the Page - 25 -
Text of the Page - 25 -
Stelle zeigen konntest, die gerade rezitiert wurde, im übrigen durfte ich, wenn
ich nur (das war die Hauptsache) im Tempel war, mich herumdrücken, wo ich
wollte. Ich durchgähnte und durchduselte also dort die vielen Stunden (so
gelangweilt habe ich mich später, glaube ich, nur noch in der Tanzstunde) und
suchte mich möglichst an den paar kleinen Abwechslungen zu freuen, die es
dort gab, etwa wenn die Bundeslade aufgemacht wurde, was mich immer an
die Schießbuden erinnerte, wo auch, wenn man in ein Schwarzes traf, eine
Kastentür sich aufmachte, nur daß dort aber immer etwas Interessantes
herauskam und hier nur immer wieder die alten Puppen ohne Köpfe. Übrigens
habe ich dort auch viel Furcht gehabt, nicht nur, wie selbstverständlich, vor
den vielen Leuten, mit denen man in nähere Berührung kam, sondern auch
deshalb, weil Du einmal nebenbei erwähntest, daß auch ich zur Thora
aufgerufen werden könne. Davor zitterte ich jahrelang. Sonst aber wurde ich
in meiner Langweile nicht wesentlich gestört, höchstens durch die Barmizwe,
die aber nur lächerliches Auswendiglernen verlangte, also nur zu einer
lächerlichen Prüfungsleistung führte, und dann, was Dich betrifft, durch
kleine, wenig bedeutende Vorfälle, etwa wenn Du zur Thora gerufen wurdest
und dieses für mein Gefühl ausschließlich gesellschaftliche Ereignis gut
überstandest oder wenn Du bei der Seelengedächtnisfeier im Tempel bliebst
und ich weggeschickt wurde, was mir durch lange Zeit, offenbar wegen des
Weggeschicktwerdens und mangels jeder tieferen Teilnahme, das kaum
bewußt werdende Gefühl hervorrief, daß es sich hier um etwas Unanständiges
handle. – So war es im Tempel, zu Hause war es womöglich noch ärmlicher
und beschränkte sich auf den ersten Sederabend, der immer mehr zu einer
Komödie mit Lachkrämpfen wurde, allerdings unter dem Einfluß der größer
werdenden Kinder. (Warum mußtest Du Dich diesem Einfluß fügen? Weil Du
ihn hervorgerufen hast.) Das war also das Glaubensmaterial, das mir
überliefert wurde, dazu kam höchstens noch die ausgestreckte Hand, die auf
»die Söhne des Millionärs Fuchs« hinwies, die an hohen Feiertagen mit ihrem
Vater im Tempel waren. Wie man mit diesem Material etwas Besseres tun
könnte, als es möglichst schnell loszuwerden, verstand ich nicht; gerade
dieses Loswerden schien mir die pietätvollste Handlung zu sein.
Noch später sah ich es aber doch wieder anders an und begriff, warum Du
glauben durftest, daß ich Dich auch in dieser Hinsicht böswillig verrate. Du
hattest aus der kleinen ghettoartigen Dorfgemeinde wirklich noch etwas
Judentum mitgebracht, es war nicht viel und verlor sich noch ein wenig in der
Stadt und beim Militär, immerhin reichten noch die Eindrücke und
Erinnerungen der Jugend knapp zu einer Art jüdischen Lebens aus, besonders
da Du ja nicht viel derartige Hilfe brauchtest, sondern von einem sehr
kräftigen Stamm warst und für Deine Person von religiösen Bedenken, wenn
sie nicht mit gesellschaftlichen Bedenken sich sehr mischten, kaum
25
back to the
book Briefe an den Vater"
Briefe an den Vater
- Title
- Briefe an den Vater
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1919
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 40
- Categories
- Weiteres Belletristik