Page - 29 - in Briefe an den Vater
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in Wahrheit ein enterbter Sohn, wurde mir natürlich auch das Nächste, der
eigene Körper unsicher; ich wuchs lang in die Höhe, wußte damit aber nichts
anzufangen, die Last war zu schwer, der Rücken wurde krumm; ich wagte
mich kaum zu bewegen oder gar zu turnen, ich blieb schwach; staunte alles,
worüber ich noch verfügte, als Wunder an, etwa meine gute Verdauung; das
genügte, um sie zu verlieren, und damit war der Weg zu aller Hypochondrie
frei, bis dann unter der übermenschlichen Anstrengung des Heiraten-Wollens
(darüber spreche ich noch) das Blut aus der Lunge kam, woran ja die
Wohnung im Schönbornpalais – die ich aber nur deshalb brauchte, weil ich
sie für mein Schreiben zu brauchen glaubte, so daß auch das auf dieses Blatt
gehört – genug Anteil haben kann. Also das alles stammte nicht von
übergroßer Arbeit, wie Du Dir es immer vorstellst. Es gab Jahre, in denen ich
bei voller Gesundheit mehr Zeit auf dem Kanapee verfaulenzt habe, als Du in
Deinem ganzen Leben, alle Krankheiten eingerechnet. Wenn ich
höchstbeschäftigt von Dir fortlief, war es meist, um mich in meinem Zimmer
hinzulegen. Meine Gesamtarbeitsleistung sowohl im Büro (wo allerdings
Faulheit nicht sehr auffällt und überdies durch meine Ängstlichkeit in
Grenzen gehalten war) als auch zu Hause ist winzig; hättest Du darüber einen
Überblick, würde es Dich entsetzen. Wahrscheinlich bin ich in meiner Anlage
gar nicht faul, aber es gab für mich nichts zu tun. Dort, wo ich lebte, war ich
verworfen, abgeurteilt, niedergekämpft, und anderswohin mich zu flüchten
strengte mich zwar äußerst an, aber das war keine Arbeit, denn es handelte
sich um Unmögliches, das für meine Kräfte bis auf kleine Ausnahmen
unerreichbar war.
In diesem Zustand bekam ich also die Freiheit der Berufswahl. War ich aber
überhaupt noch fähig, eine solche Freiheit eigentlich zu gebrauchen? Traute
ich mir es denn noch zu, einen wirklichen Beruf erreichen zu können? Meine
Selbstbewertung war von Dir viel abhängiger als von irgend etwas sonst, etwa
von einem äußeren Erfolg. Der war die Stärkung eines Augenblicks, sonst
nichts, aber auf der anderen Seite zog Dein Gewicht immer viel stärker
hinunter. Niemals würde ich durch die erste Volksschulklasse kommen,
dachte ich, aber es gelang, ich bekam sogar eine Prämie; aber die
Aufnahmeprüfung ins Gymnasium würde ich gewiß nicht bestehn, aber es
gelang; aber nun falle ich in der ersten Gymnasialklasse bestimmt durch, nein,
ich fiel nicht durch und es gelang immer weiter und weiter. Daraus ergab sich
aber keine Zuversicht, im Gegenteil, immer war ich überzeugt – und in
Deiner abweisenden Miene halte ich förmlich den Beweis dafür – daß, je
mehr mir gelingt, desto schlimmer es schließlich wird ausgehn müssen. Oft
sah ich im Geist die schreckliche Versammlung der Professoren (das
Gymnasium ist nur das einheitlichste Beispiel, überall um mich war es aber
ähnlich), wie sie, wenn ich die Prima überstanden hatte, also in der Sekunda,
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Briefe an den Vater
- Title
- Briefe an den Vater
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1919
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 40
- Categories
- Weiteres Belletristik