Page - 31 - in Briefe an den Vater
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war dann allerdings auch das Mißlingen.
Ich fürchte, weil mir in dieser Gegend alles mißlingt, daß es mir auch nicht
gelingen wird, Dir diese Heiratsversuche verständlich zu machen. Und doch
hängt das Gelingen des ganzen Briefes davon ab, denn in diesen Versuchen
war einerseits alles versammelt, was ich an positiven Kräften zur Verfügung
hatte, andererseits sammelten sich hier auch geradezu mit Wut alle negativen
Kräfte, die ich als Mitergebnis Deiner Erziehung beschrieben habe, also die
Schwäche, der Mangel an Selbstvertrauen, das Schuldbewußtsein, und zogen
förmlich einen Kordon zwischen mir und der Heirat. Die Erklärung wird mir
auch deshalb schwer werden, weil ich hier alles in so vielen Tagen und
Nächten immer wieder durchdacht und durchgraben habe, daß selbst mich
jetzt der Anblick schon verwirrt. Erleichtert wird mir die Erklärung nur durch
Dein meiner Meinung nach vollständiges Mißverstehn der Sache; ein so
vollständiges Mißverstehn ein wenig zu verbessern, scheint nicht übermäßig
schwer.
Zunächst stellst du das Mißlingen der Heiraten in die Reihe meiner
sonstigen Mißerfolge; dagegen hätte ich an sich nichts, vorausgesetzt, daß Du
meine bisherige Erklärung des Mißerfolgs annimmst. Es steht tatsächlich in
dieser Reihe, nur die Bedeutung der Sache unterschätzst Du und unterschätzst
sie derartig, daß wir, wenn wir miteinander davon reden, eigentlich von ganz
Verschiedenem sprechen. Ich wage zu sagen, daß Dir in Deinem ganzen
Leben nichts geschehen ist, was für Dich eine solche Bedeutung gehabt hätte,
wie für mich die Heiratsversuche. Damit meine ich nicht, daß Du an sich
nichts so Bedeutendes erlebt hättest, im Gegenteil, Dein Leben war viel
reicher und sorgenvoller und gedrängter als meines, aber eben deshalb ist Dir
nichts Derartiges geschehen. Es ist so, wie wenn einer fünf niedrige
Treppenstufen hinaufzusteigen hat und ein zweiter nur eine Treppenstufe, die
aber, wenigstens für ihn, so hoch ist, wie jene fünf zusammen; der erste wird
nicht nur die fünf bewältigen, sondern noch hunderte und tausende weitere, er
wird ein großes und sehr anstrengendes Leben geführt haben, aber keine der
Stufen, die er erstiegen hat, wird für ihn eine solche Bedeutung gehabt haben,
wie für den zweiten jene eine, erste, hohe, für alle seine Kräfte unmöglich zu
ersteigende Stufe, zu der er nicht hinauf- und über die er natürlich auch nicht
hinauskommt.
Heiraten, eine Familie gründen, alle Kinder, welche kommen, hinnehmen,
in dieser unsicheren Welt erhalten und gar noch ein wenig führen, ist meiner
Überzeugung nach das Äußerste, das einem Menschen überhaupt gelingen
kann. Daß es scheinbar so vielen leicht gelingt, ist kein Gegenbeweis, denn
erstens gelingt es tatsächlich nicht vielen, und zweitens ›tun‹ es diese
Nichtvielen meistens nicht, sondern es ›geschieht‹ bloß mit ihnen; das ist
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Briefe an den Vater
- Title
- Briefe an den Vater
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1919
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 40
- Categories
- Weiteres Belletristik